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Die Stimmen von Expert*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen – des deutschen Kanzlers Wellen schlugen hoch (2. Teil)

4. Reuters, AFP, TRT, EuroNews und Deutsche Welle des deutschen Kanzlers Wellen schlugen hoch.

Friedrich Merz steht an einem Rednerpult in Berlin, spricht vor einem Saal voller Wirtschaftsvertreter*innen – und macht einen Witz auf Kosten von Belém.1 AFP – Merz verärgert Brasilianer mit Äußerungen über Belém 🌐 https://youtu.be/agnJfFNSYJ4 „Wer von euch würde denn gerne hier bleiben?“, habe er die Journalist*innen bei der COP30 gefragt, niemand habe die Hand gehoben, alle seien froh gewesen, „aus diesem Ort“ wieder nach Deutschland zurückzukehren.2 Euronews – German Chancellor Merz blasts Belém, rattling Brazilians 🌐 https://www.euronews.com/2025/11/19/should-have-gone-to-a-pub-merz-blasts-belem-rattling-brazilians In Deutschland wird das als „unglücklicher Spruch“ verhandelt. In Brasilien explodiert ein kollektiver Nerv.

Wenn ein Kanzler über „diesen Ort“ spottet

Die Szene, die AFP, DW, Euronews und unzählige Shorts immer wieder zeigen, ist kurz – aber sie erzählt eine Menge.3 AFP – Merz verärgert Brasilianer mit Äußerungen über Belém 🌐 https://youtu.be/agnJfFNSYJ4 4 DW – Merz sparks outrage over Belém comments 🌐https://www.dw.com/en/merz-sparks-outrage-over-belem-comments/video-74813808 Ein weißer, konservativer Regierungschef aus einem wohlhabenden Industrieland macht sich über eine Stadt im globalen Süden lustig, die gerade 50.000 Menschen zur Weltklimakonferenz beherbergt – mitten in einer Region, in der die Klimakrise längst Alltag ist.5 Ecologic Institute – The COP30 Climate Conference in Belém 🌐 https://www.ecologic.eu/20238

Merz rahmt seine Anekdote mit dem Satz, Deutschland sei „eines der schönsten Länder der Welt“, um dann Belém implizit zum Gegenteil zu erklären.6 Euronews – German Chancellor Merz blasts Belém, rattling Brazilians 🌐https://www.euronews.com/2025/11/19/should-have-gone-to-a-pub-merz-blasts-belem-rattling-brazilians Was als joviale Pointe gedacht ist, kommt in Brasilien an wie ein Schlag ins Gesicht. Die internationalen Reels legen traurige Musik darunter, blenden Bilder von Hochhäusern in Berlin und Holzhäusern am Amazonas ein und lassen Memes sprechen, in denen Merz zum Inbegriff des arroganten Nordens wird. Und plötzlich merkst du: Diese paar Sekunden erzählen nicht nur etwas über seine Empathiefähigkeit, sondern über Strukturen, in denen wir alle stecken.

Grafik: Screenshot: „Speaking at an event after his return, Merz referred to Belém as ‚this place‘.“ Euronews: German Chancellor Merz blasts Belém, rattling Brazilians, online verfügbar unter https://www.euronews.com/2025/11/19/should-have-gone-to-a-pub-merz-blasts-belem-rattling-brazilians abgerufen am 7.12.2025. Redaktionelle Nutzung. 7 Euronews: German Chancellor Merz blasts Belém, rattling Brazilians 🌐 https://www.euronews.com/2025/11/19/should-have-gone-to-a-pub-merz-blasts-belem-rattling-brazilians

Grafik: Screenshot: „They were all happy that we returned, especially from that place.“ Euronews: German Chancellor Merz blasts Belém, rattling Brazilians, online verfügbar unter https://www.euronews.com/2025/11/19/should-have-gone-to-a-pub-merz-blasts-belem-rattling-brazilians abgerufen am 7.12.2025. Redaktionelle Nutzung.8 Euronews: German Chancellor Merz blasts Belém, rattling Brazilians 🌐 https://www.euronews.com/2025/11/19/should-have-gone-to-a-pub-merz-blasts-belem-rattling-brazilians

Brasilien antwortet: „Geh tanzen, Friedrich“

Die politische Antwort aus Brasilien ist bemerkenswert schnell und erstaunlich klar. Präsident Lula da Silva sagt bei einem Auftritt im Norden des Landes, Merz hätte vielleicht einfach mal in eine Bar gehen, essen und tanzen sollen – dann hätte er gemerkt, dass Berlin ihm „nicht einmal zehn Prozent“ der Lebensqualität bietet, die Pará und Belém zu bieten haben. 9 AP News – Germany’s Merz under fire in Brazil for his comments on Amazon host city of COP30 🌐 https://apnews.com/article/brazil-germany-merz-climate-comment-ee023c194006b4d2eea0a7ffb514d393 10 France24 / RFI – Lula says Germany’s Merz should have ‘gone dancing’ in Belém 🌐 https://www.rfi.fr/en/international-news/20251118-that-place-merz-offends-brazil-with-comments-about-cop30-city Der Satz geht viral: „He should have gone dancing.“

Beléms Bürgermeister Igor Normando nennt Merz’ Worte „arrogant und voller Vorurteile“ und betont, dass andere deutsche Gäste die Stadt als herzlich und lebendig erlebt hätten.11 DW – What did Germany’s chancellor say to make Brazil so upset? 🌐 https://www.dw.com/en/germany-chancellor-friedrich-merz-brazil-belem-comments/a-74803781 En Gouverneur von Pará hält ihm vor, dass jemand aus einem Land, das massiv zur Erhitzung beigetragen hat, sich über die Hitze im Amazonas wundere – und dass diese Rede mehr über den Redner verrate als über Belém.12 TRT World – Brazil boils over at Merz’s ‘that place’ remark belittling COP30 host 🌐 https://www.trtworld.com/article/ca61e17d38ba

Brasilianische Kolumnist*innen sprechen offen von „Xenophobie“ (Fremdenfeindlichkeit) und „weißer Überheblichkeit“.13 TRT World – Brazil boils over at Merz’s ‘that place’ remark belittling COP30 host 🌐 https://www.trtworld.com/article/ca61e17d38ba In Kommentaren bei DW, ABC oder Euronews fordern User*innen, Merz solle sich entschuldigen oder künftig fernbleiben.14 Euronews – German Chancellor Merz blasts Belém, rattling Brazilians 🌐 https://www.euronews.com/2025/11/19/should-have-gone-to-a-pub-merz-blasts-belem-rattling-brazilians 15 Yahoo News – German Chancellor Merz blasts Belém, rattling Brazilians 🌐 https://ca.news.yahoo.com/gone-pub-merz-blasts-bel-103040301.html Da lacht niemand einfach nur über einen verunglückten Scherz – da benennt ein Land sehr klar, dass es sich nicht mehr als Kulisse für die Selbstinszenierung des Nordens zur Verfügung stellen will.

Belém ist kein Witz, sondern Frontlinie
Um zu verstehen, warum diese Empörung so heftig ist, musst du dir Belém genauer anschauen. Die Stadt liegt am Ufer des Rio Guamá, am Rand des Amazonasbeckens, in einem Bundesstaat, in dem Entwaldung, Landkonflikte, extreme Hitze und Armut sich gegenseitig verstärken.16 Reuters – COP30 host city Belém, Brazil, tries to stoke economy while preserving Amazon 🌐 https://www.reuters.com/sustainability/cop/cop30-host-city-belem-brazil-tries-stoke-economy-while-preserving-amazon-2025-11-21/ 17 KfW – COP30 in Belém: Where the forest becomes the world stage 🌐 https://www.kfw.de/stories/environment/climate-action/klimaschutz-brasilien/ Belém hat mit unzureichender Abwasserentsorgung, veralteter Infrastruktur und massiven sozialen Ungleichheiten zu kämpfen – und gleichzeitig mit Temperaturen, die bis 2050 laut Szenarien monatelang im gesundheitlich gefährlichen Bereich liegen könnten.18 Ecologic Institute – The COP30 Climate Conference in Belém 🌐 https://www.ecologic.eu/20238

Gleichzeitig versucht der Bundesstaat Pará ein Gegenmodell zur klassischen Ausbeutungsökonomie aufzubauen: mit Bioökonomieparks, Kooperativen für Açaí, Nüsse und Kaffee, die drei- bis siebenmal höhere Löhne zahlen können als Sojaanbau oder Rinderweiden.19 Reuters – COP30 host city Belém, Brazil, tries to stoke economy while preserving Amazon 🌐 https://www.reuters.com/sustainability/cop/cop30-host-city-belem-brazil-tries-stoke-economy-while-preserving-amazon-2025-11-21/ Belém ist damit ein Labor für die Frage, ob sich Regenwald wirklich als „stehender Wald“ ökonomisch absichern lässt – und nicht mehr als bloße Rohstoffquelle für den globalen Norden. Dass ausgerechnet diese Stadt von einem deutschen Regierungschef zu einem „Ort, aus dem man schnell wieder weg will“, degradiert wird, trifft mitten ins Herz dieses politischen Projekts.

Foto: Paranüsse, Exportprodukt aus dem Amazonas. In Brasilien und Lateinamerika werden Paranüsse „Brasiliennüsse“ genannt. Kastanien aus Pará, auch bekannt als Paranüsse (auf Portugiesisch: Castanha-do-Pará oder Castanha-do-Brasil) Zentrum von Belém, Pará, Nordbrasilien, Bolivien und Amazonas-Regenwald. – RHJ / iStock de GettyImages

Klimagerechtigkeit trifft weißen Blick
Was in den internationalen Reels wie ein Shitstorm aussieht, ist im Kern eine Debatte über Klimagerechtigkeit. Okay, es war ein Shitstorm. Trotzdem: Deutschland gehört historisch zu den größten Emittenten weltweit, hat sich über Jahrzehnte an billiger Kohle, Öl und Gas hochindustrialisiert und ist bis heute pro Kopf deutlich über dem globalen Durchschnitt, was Treibhausgasemissionen angeht. 20 Umweltbundesamt – Treibhausgas-Emissionen in Deutschland 🌐 https://www.umweltbundesamt.de/daten/klima/treibhausgas-emissionen-in-deutschland 21 Umweltbundesamt – Treibhausgasminderungsziele Deutschlands 🌐 https://www.umweltbundesamt.de/daten/klima/treibhausgasminderungsziele-deutschlands Brasilien dagegen trägt zwar durch Entwaldung und fossile Nutzung zur Krise bei, ist aber pro Kopf deutlich niedriger – und gleichzeitig massiv von den Folgen betroffen.22 IPCC – AR6 WGII: Climate Change 2022 – Impacts, Adaptation, and Vulnerability (Kapitel Lateinamerika) 🌐 https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg2/

Wenn ein Kanzler aus Berlin dann sinngemäß sagt: „Schön, mal kurz da gewesen zu sein, aber leben will da niemand“, dann ist das nicht neutral. Und es ist nicht okay. Es sagt: Unsere Lebensrealität, unser Klima, unsere Städte sind der Maßstab. Eure Hitze, eure Armut, eure Überflutungen, euer Kampf um Waldschutz sind Exotik, politischer Hintergrund, maximal Ort für ein paar nette Selfies – aber bitte nichts, wo man ernsthaft bleiben möchte. Genau deshalb sprechen brasilianische Kommentator*innen von Rassismus, Xenophobie und „neuer Berliner Mauer“ im Kopf.23 TRT World – Brazil boils over at Merz’s ‘that place’ remark belittling COP30 host 🌐 https://www.trtworld.com/article/ca61e17d38ba

Merz’ Spruch verdichtet, was globale Klimapolitik viel zu oft ist – ein Setting, in dem der globale Norden Forderungen stellt, Gelder verspricht, Fonds aufsetzt, aber emotional und politisch nie ganz dort ankommt, wo die Frontlinien dieser Krise verlaufen.

Grafik: Screenshot: Brazil boils over at Merz’s ‚that place‘ remark belittling COP30’s Amazonian host city, TRT World, İstanbul / Türkiye. Online verfügbar unter https://www.trtworld.com/article/ca61e17d38ba abgerufen am 7.12.2025. Redaktionelle Nutzung. 24 TRT World – Brazil boils over at Merz’s ‘that place’ remark belittling COP30 host 🌐 https://www.trtworld.com/article/ca61e17d38ba

Die deutsche Reaktion: kleinreden und weitergehen
Während brasilianische Medien und internationale Sender das Thema tagelang drehen, bleibt die Aufregung in Deutschland überschaubar.25 DW – What did Germany’s chancellor say to make Brazil so upset? 🌐 https://www.dw.com/en/germany-chancellor-friedrich-merz-brazil-belem-comments/a-74803781 Ein paar Leitartikel kritisieren den „faux pas“, manche kommentieren, Merz sei „unprofessionell“, aber eine breite Debatte über koloniale Blicke, Respekt und Klimagerechtigkeit? Fehlanzeige.

Das Kanzleramt lässt verlauten, Merz habe sich einfach auf die „Anstrengungen der Reise“ bezogen, nicht auf Brasilien oder Belém als solches.26 Reuters – German Chancellor Merz just wanted home, Berlin says after Brazil remark irks 🌐 https://www.reuters.com/world/german-chancellor-merz-just-wanted-home-berlin-says-after-brazil-remark-irks-2025-11-19/ Eine echte Entschuldigung bleibt aus, obwohl Lula, der Bürgermeister von Belém und der Gouverneur von Pará den Kanzler öffentlich kritisieren. Bei einem späteren Treffen am Rande des G20 betonen beide Seiten, man habe sich wieder „verständigt“ – Merz kündigt an, er wolle bei seinem nächsten Besuch in Belém tanzen und die lokale Küche ausprobieren. 27 DW – Germany’s Merz, Brazil’s Lula reconcile after Belém comments 🌐 https://www.dw.com/en/germanys-merz-brazils-lula-reconcile-after-belem-comments/a-74850206

Es wirkt wie der Versuch, die Sache mit ein bisschen Humor zuzukleistern. Aber die Clips bleiben, die internationalen Artikel bleiben, die Erinnerung daran bleibt, wie schnell ein deutscher Regierungschef bereit ist, einen zentralen Ort globaler Klimapolitik lächerlich zu machen. Und sie bleiben vor allem in Brasilien.

Privatjet, Klimagipfel und die große Doppelmoral
Merz’ Belém Spruch steht nicht im luftleeren Raum. Schon vor der COP30 hatte er sich Kritik eingefangen, weil er mit einem Privatjet nach Brasilien reiste – während er öffentlich mehr „Realismus“ in der Klimapolitik fordert und klimaschützende Maßnahmen in Deutschland gern als „Überforderung“ der Bürger*innen framet.28 Euronews – COP30: ‘Action not words’ – criticism of private jet owner Merz 🌐 https://de.euronews.com/video/2025/11/07/cop30-taten-statt-worte-kritik-an-privatflugzeug-besitzer-merz

Dass er dann keine 24 Stunden in Belém bleibt, schnell wieder nach Berlin jettet und dort einem Saal voller Wirtschaftsfunktionäre erzählt, wie froh alle waren, „aus diesem Ort“ zurück zu sein, ist Symbolpolitik im schlechtesten Sinn. Es passt perfekt zu einer Klimapolitik, die internationale Foren braucht, um sich grün zu inszenieren – aber kaum bereit ist, Verantwortung wirklich zu teilen oder Macht abzugeben.29 UNEP – Emissions Gap Report 2025 🌐 https://www.unep.org/resources/emissions-gap-report 30 Umweltbundesamt – UN Climate Conference COP30: No breakthrough, but small steps 🌐 https://www.umweltbundesamt.de/en/topics/un-climate-conference-cop30-no-breakthrough-but

Gleichzeitig ist Deutschland ein wichtiger Geldgeber: für den Amazonas-Fonds, für neue Waldschutzfinanzierungen, für Klima- und Anpassungsprogramme. 31 Reuters – COP30 host city Belem, Brazil, tries to stoke economy while preserving Amazon rainforest 🌐 https://reut.rs/47RluIG Genau deshalb ist die Dissonanz so laut: Auf der einen Seite Überweisungen, Absichtserklärungen, Fondsversprechen. Auf der anderen Seite verächtliche Worte über die Orte, um die es gehen soll.

Was das alles mit uns zu tun hat
Vielleicht ist das Unangenehmste an dieser Story: Sie hält uns als deutscher Öffentlichkeit einen Spiegel vor. Wir sind es gewohnt, Weltklimakonferenzen als Orte zu betrachten, an denen „wir“ Verantwortung zeigen, „unsere“ Industrie umbauen, „unsere“ Klimaziele verteidigen. Wir reden über deutsche Fahrverbote, Heizungsgesetze, Autobahnen – und vergessen oft, dass der eigentliche Schauplatz dieser Krise woanders liegt.

Belém erinnert uns daran, dass Klimapolitik immer auch globale Gerechtigkeitspolitik ist. Dass jede Tonne CO₂ aus unseren Kohlekraftwerken, Autos und Flugzeugen irgendwo anders das Risiko von Dürren, Überschwemmungen und Ernteeinbrüchen erhöht. 32 IPCC – AR6 Synthesis Report, Summary for Policymakers 🌐 https://www.ipcc.ch/report/ar6/syr/ Und dass es nicht reicht, Geld zu schicken, wenn wir gleichzeitig die Menschen und Orte, die wir vorgeben zu unterstützen, rhetorisch abwerten.

Für viele Brasilianer*innen ist diese Episode nicht nur ein Sturm im Wasserglas. Sie ist ein Symbol für ein tieferes Misstrauen gegenüber einer Klimapolitik, die zwar von „Partnerschaft auf Augenhöhe“ spricht, aber in der Praxis oft so klingt, wie Merz auf diesem Berliner Podium.

Titelbild: Handgezeichneter Cartoon Sad Boy mit vielen Unlike-Zeichen in seinen sozialen Medien. – NLshop / iStock de GettyImages

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