Ein Interview mit Tom und Patrick, aufgezeichnet am 15.11,2024
In diesem Interview spreche ich als beatmungspflichtiger Patient, mit meinem Freund Tom offen über die Herausforderungen und Missstände im Pflegebereich. Das Gespräch thematisiert die Belastungen für Pflegekräfte, strukturelle Probleme in der Intensivpflege und den Mangel an gut ausgebildetem Personal – aber auch die positiven Seiten eines engagierten Teams.
Tom: Patrick, du hast diese Woche wieder neue Pflegekräfte kennengelernt. Wie lief das?
Patrick: Es war… eine Achterbahn. Ich möchte vorweg sagen, dass ich mit meinem festen Team unglaublich zufrieden bin. Sie leisten täglich Großartiges, oft unter extremen Bedingungen. Aber wenn jemand ausfällt – wie jetzt durch eine längerfristige Krankheit – wird das System instabil. Wir brauchen Ersatzkräfte, die oft nur kurzzeitig einspringen. Und da zeigt sich das wahre Problem im Pflegebereich: die fehlende Einarbeitung und Überforderung der Pflegekräfte.
Tom: Was genau ist passiert?
Patrick: Eine neue Pflegekraft, die frisch ins Team kam, hatte nur drei Stunden Einarbeitung. In dieser kurzen Zeit sollte sie sich mit meiner Beatmungsmaschine, meinem Hustenassistenten, der Stomapflege und weiteren Details vertraut machen. Dann hat sie direkt den ersten Tag- und auch Nachtdienste übernommen, obwohl ihr niemand gezeigt hat, was in der Nacht zu tun ist. Es ist unmöglich, so komplexe Pflege sicher zu gewährleisten.
Ich hatte Situationen, die lebensgefährlich waren. Laut Protokoll der Maschine war ich unvorbereitet mehr als zwei Minuten ohne Sauerstoff. Ich konnte weder schreiben noch mit meinen Augen auf die fehlende Beatmung hinweisen, denn um meine Augensprache zu verstehen braucht es Erfahrung – es war furchtbar. Solche Fehler passieren, wenn Pflegekräfte unter Zeitdruck ohne ausreichende Schulung arbeiten.
Tom: Das klingt beängstigend. Warum passiert das?
Patrick: Es liegt nicht an den Pflegekräften selbst. Viele sind motiviert, werden aber so eingeplant, dass sie kaum Zeit haben, sich einzuarbeiten. So, wie es diese Woche bei mir passiert ist. Nach drei Stunden war der erste Tag vorbei, weil nachts der Nachtdienst beim nächsten Patienten oder der nächsten Patientin auf dem Plan stand. Vielleicht war das auch so gewünscht, ich weiß es nicht. Geld gibt’s dafür natürlich ordentlich, wenn man wochenlang 12-Stunden-Dienste durcharbeitet. Das ist dennoch ein Systemfehler. Pflegefirmen kalkulieren ja bewusst so, als wären Mitarbeitende immer gesund, hätten keine Urlaubsansprüche und müssten keine Überstunden abbauen1Corinna Emundts, Pflegenotstand „Corona-Krise macht Probleme sichtbarer“, tagesschau.de, 12.11.2020, https://www.tagesschau.de/inland/interview-rothgang-101.html. Irgendwer wird schon des Geldes wegen einspringen.
Es geht oft nur darum, Dienste abzudecken. Die Firmen schicken unzureichend geschultes Personal zu schwerkranken Patient*innen, um mit den Krankenkassen abrechnen zu können2 Sandra Stalinski, Pflege in Deutschland – Warum das Intensivpflegegesetz umstritten ist, tagesscaau.de, 2.11.2019, https://www.tagesschau.de/inland/intensivpflegestaerkungsgesetz-faq-101.html.
Tom: Was bedeutet das für andere Betroffene?
Patrick: Viele erleben diese „Hölle“ täglich. Es gibt Berichte von Patient*innen, denen unqualifiziertes Personal geschickt wird, das noch nie eine Beatmungsmaschine gesehen hat. Diese Pflegekräfte arbeiten ein paar Tage, gehen wieder, und niemand überprüft, ob die Patientinnen die notwendige Versorgung erhalten.
Ein Beispiel: Manche Zeitarbeitsfirmen schicken Pflegekräfte ohne spezifische Schulung für Intensivpflege zu beatmungspflichtigen Patient*innen –in der Vergangenheit habe ich das selbst erleben dürfen. Das sind Menschenleben, die da aufs Spiel gesetzt werden.
Tom: Trotz dieser Kritik betonst du immer wieder, wie zufrieden du mit deinem Team bist.
Patrick: Absolut. Mein festes Team ist großartig. Sie sind erfahren, empathisch und kennen meine Bedürfnisse. Leider arbeiten viele Pflegekräfte an der Belastungsgrenze. Der Beruf ist oft unterbezahlt, die Arbeitszeiten sind hart, und es gibt zu wenig Personal, um Krankheitsausfälle zu kompensieren3Nadine Millich, Pflege-Thermometer 2022 zur häuslichen Intensivpflege – Angespannte Situation von Leitungen und Pflegepersonal, 12.7.2022, https://www.bibliomed-pflege.de/news/angespannte-situation-von-leitungen-und-pflegepersonal.
Immer wenn eine Ersatzkraft für ein paar Tage kommt, wird mir bewusst, wie viel Glück ich mit meinem Team habe. Ich möchte betonen, dass die Probleme, die ich erlebe, nicht an mangelndem Engagement der Pflegekräfte liegen, sondern an einem von den Arbeitgebern und teils auch dem Gesetzgeber geschaffenen System, das sie überfordert und ausnutzt4Ann-Kathrin Jeske, Gesundheitssystem am Limit: Die Pläne der Ampel-Koalition für mehr Pflegekräfte, 8.12.2021, https://www.deutschlandfunk.de/gesundheitssystem-am-limit-die-plaene-der-ampel-koalition-fuer-mehr-pflegekraefte-dlf-5defcc8d-100.html. Ich sag‘s mal ganz hart: Wenn jemand in fünf Tagen 60 Stunden gearbeitet hat und dann der Anruf kommt, ob man am Wochenende einspringen könne, wieviel Prozent Leistung erwartest du? Aber Pflegedienste lieben Pflegedienste lieben solche Arbeitskräfte, die immer ja sagen.
Tom: Was müsste sich ändern?
Patrick: Mehr Pflegedienste, damit sie „Nein“ sagen können, wenn die Kasse neue Patient*innen schicken will. Denn da fängt das Problem doch an. Ich wurde von meinem Pflegedienst aufgenommen obwohl klar war, dass nicht genug Pflegekräfte für mich da sind und der Arbeitsmarkt leergefegt sst. Man hätte mich nicht annehmen dürfen. Aber ich bin heilfroh, dass mich Amelie eben nicht abgewiesn hat wie alle anderen. Sonst hätte ich in eine Pflege-WG gemusst, wo ich nicht hätte selbstbestimmt leben und arbeiten können.
Mehr Pflegedienste, das erfordert mehr Personal, bessere Bezahlung und vor allem strukturierte Einarbeitungen und fachspezifische Weiterbildungen für neue Pflegekräfte, damit die, die wir haben, nicht nach wenigen Jahren perspektivlos aussteigen. Ich bin sogar bereit, die Kosten für eine längere Einarbeitung selbst zu übernehmen. Es ist absurd, wie wenig Zeit für so etwas eingeplant wird. Niemand sollte in einem Beruf, der mit Menschenleben zu tun hat, ohne ausreichende Schulung arbeiten müssen5Leon KupperEinarbeitung Außerklinische Intensivpflege – # 5 wichtige Themen, 18.08.2023, https://dmaonline.de/die-5-wichtigsten-einarbeitungsthemen-ausserklinische-intensivpflege/.
Tom: Wie viele Pflegekräfte fehlen Deutschland deiner Meinung nach?
Patrick: Ich denke – und ich stütze mich auf Zahlen des statistischen Bundesamtes6 Pressemitteilung Nr. 033 vom 24. Januar 2024, Bis 2049 werden voraussichtlich mindestens 280 000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt, 24.1.2024, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/01/PD24_033_23_12.html 7Florian Zandt, Demografischer Wandel – Wie entwickelt sich der Pflegenotstand weiter?, statista, https://de.statista.com/infografik/32325/geschaetzte-anzahl-an-fehlenden-pflegekraeften-in-deutschland/ – recht wahrscheinlich reden wir von 150.000 vakanten, größtenteils überhaupt erst einmal zu schaffenden Stellen.
Conclusión
Das Gespräch mit Tom zeigt eindrücklich, wie strukturelle Defizite in der Pflege Patient*innen gefährden und Pflegekräfte überfordern. Während engagierte Pflegerkräfte täglich Großartiges leisten, stoßen sie oft an ihre Grenzen. Um das System zu verbessern, braucht es mehr Personal, bessere Arbeitsbedingungen und nachhaltige Reformen8HBS, Arbeitsbedingungen in der Pflege, Hans-Böckler-Stiftung, 08.05.2024, https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-zahlen-und-studien-zum-pflegenotstand-und-wege-hinaus-17962.htm.
Update vom 21.2024
Die nachfolgenden Dienste liefen richtig gut (dachte ich). Zufällig hatte sie dieser Tage Tagdienst, als mein Teamleiter Nachtdienst hatte. Ich nutzte die Gunst der Stunde, um ihr während der Übergabe einen festen Platz in meinem echt coolen Team anzubeten. Mein Vorschlag stieß allseits auf wenig Interesse. Sie habe auch schon fünf andere Patient*innen. Schade.
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