Es ist eine ganze Weile her, dass ich Probleme mit meiner Krankenkasse hatte. Seit ich eine persönliche Ansprechpartnerin habe, die Verständnis für die vielen, oft nur kleinen, aber praktisch immer sehr besonderen Gegebenheiten und Umstände von ALS Erkrankungen aufzubringen vermag, läuft die Sache.

Zumindest in der Theorie.

Denn leider hat auch meine übliche Bearbeiterin irgendwann Urlaub. Oder wird vertreten, weil sie vielleicht auf einer Fortbildung ist. Oder sie ist krank. Soll in den besten Familien vorkommen.

Und schon sieht sich der ALS Patient sinnbefreiten Diskussionen konfrontiert, die es einfach nicht braucht. Ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl würde dem oder der einen oder anderen wirklich nicht schaden.

Die NIPEG – Non-Invasive PEG

Die Sache ist die. Ich verschlucke mich regelmäßig an meinem eigenen Speichel wenn ich nicht oder nicht richtig gelagert werde. Ebenso, wenn der Befeuchter nicht aufgefüllt wird. Speziell beim Aufsetzen rutsch das in diesen Fällen klebriger als sonst ausfallende Sekret in den Atmungstrakt und führt zum Husten. Wenn ich das halt noch könnte.

Streng genommen ist das gar kein Verschlucken. Das wird immer falsch interpretiert. Ich meine wohl, dass man sich nur an etwas verschlucken kann, das man irgendwo im Mund hatte oder so. Ich rede hier auch exklusiv von Sekret, ausdrücklich nicht von Nahrung. Aber gut.

Worauf ich hinaus will, ist, dass ich mich im Vergleich zu jedem gesunden Menschen wahrscheinlich seltener an Nahrung verschlucke weil wir bei der Nahrungsaufnahme stets alle hochkonzentriert sind. Wir drehen sogar die Musik runter. Und sollte es doch passieren, stehen Absaugkatheter und Hustenassistent direkt neben mir. Seit meinem neuen Pflegedienst haben sogar alle Pfleger eine Einweisung in die Geräte bekommen. Bei beiden Intensivpflegediensten davor war das ja nicht der Fall, obgleich meines Wissens gesetzlich vorgeschrieben.

Das wirklich große Problem bei der Nahrungsaufnahme ist, dass meine Muskelkraft in Mund und Lippen einfach nicht mehr da ist. Ich bekomme die Nahrung nicht durch den Strohhalm in meinen Mund transportiert. Und da kommt jetzt die kreative Lösung ins Spiel, die ich jedem Betroffenen nur empfehlen kann auszuprobieren. Vorausgesetzt, es klappt mit dem Schlucken als solches noch, versteht sich.

Man nehme eine PEG Spritze mit ENfit Anschluss, montiere daran ein Easybag Überleitungssystem und schneide das in der Mitte durch. Fertig ist die Nicht-Invasive PEG, wie ich sie in Anlehnung an meine NIV (nicht invasive Beatmung) liebevoll benannt habe.

Geht nicht gibt’s nicht. Klar geht das.

Seit Anfang des Jahres ernähre ich mich jetzt schon auf diese Weise. Die Jungs von meinem neuen Pflegedienst gehen auf mich ein, nehmen sich die Zeit, die ich brauche.

Wenn ich mal ganz besonders stark schleime oder viel kleckere – was vor einem Monat gängiger Standard war, weil ich praktisch regelmäßig falsch oder gar nicht gelagert wurde – dann arbeiten sie gemeinsam mit mir an einer Lösung statt immer pauschal zu postulieren, ich bräuchte eine PEG und eine Trachealkanüle. Das hat mich bei meinem alten Pflegedienst echt angekotzt, wenn mich Pfleger ständig unterbrechen oder gleich gar nicht zu Wort kommen lassen, mich aber mit ihren neunmalklugen Weisheiten behelligen. Klar, ich soll als nicht-intubationsfähiger ALS Hochrisikopatient nicht notwendige OPs machen lassen, ohne davor überhaupt mal die Vor- und Nachteile abzuwägen. Aber du Pfleger hast so viel Schiss vor einer statistisch millionen- und abermillionenfach signifikant und nicht wegdiskutierbar unbedenklichen Corona-Impfung, dass du diese verweigerst und sogar deinen Job dafür aufs Spiel setzt. Einerseits zumindest konsequent, trotzdem Vollpfosten, sorry. Jeder mag in der Sache seine eigene Entscheidung treffen. Aber du trägst ja nicht einmal aus Respekt mir gegenüber eine Maske. Auf deinen medizinischen Rat soll ich vertrauen? Von was träumst du nachts?

Nehmen wir aber mal sich professionell verhaltende Pfleger zum Beispiel. Also solche, die nicht sogar im Tagdienst so fest schlafen, dass sie über eine halbe Stunde lang den Alarm der Beatmung nicht mitbekommen (leider öfter passiert als ich zählen konnte). Dann, ja, dann schaut das anders aus. Dann funktioniert das astrein. Ich darf zitieren aus einer meiner Nachrichten an die Kasse:

Die Mitarbeiter meines seit vier Wochen neuen Pflegedienstes sind hochmotiviert und engagiert. Sie nehmen sich die Zeit die ich brauche. Meine tägliche Dosis über die Spritze: 5x Trinknahrung hochkalorisch je 400kcal, proteinreich, zur ausschließlichen Ernährung vorgesehen, 8-10 Kaffee oder Espressi, nach jedem Kaffee und jeder Nahrung ein kleines Glas Wasser (40-50ml), nach Lust, Laune und Besuch abends noch Tee, Saft, Wein oder Cocktails. Anders formuliert: wenn ich noch mehr in meinen Magen pumpe, dann kotze ich vom andern Stern.

E-Mail an die AOK zur Begründung meines Anliegens vom 1.9.2022

Ich wage mal zu behaupten, dass ich über eine PEG auch nicht mehr schaffen würde.

Ganz einfach deshalb, weil ich mit 2.000 kcal täglich nur durch die Trinknahrung – alles andere, wie die frisch gepressten Obstsäfte oder auch der Zucker aus Minimum sechs Kaffee, kommen noch on top – an der Grenze dessen angekommen bin, was mein Körper verträgt.

Ich hielte es auch für wenig schlau, die vom Hersteller empfohlene Tagesdosis noch weiter zu überschreiten als ich es ohnehin schon tue.

Tja, wer mich und meinen Schreibstil kennt, der ahnt schon, worauf das rausläuft. Genau das fordern jetzt die Schreibtischhengste der AOK von mir.

Hilfsmittelbestellung führt zu Aufforderung zur OP

Ja, so kann es laufen, wenn am längeren Hebel Menschen sitzen, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Natürlich verweigert mir die AOK die Kostenübernahme für die Spritzen und die Überleitungssysteme. Bei Letzterem sehe ich das zugegebenermaßen selbst grenzwertig, so fair das zu sagen möchte ich sein, da ja bekannt ist, dass wir diese zerstückeln. Das hätte ich im Übrigen als Ablehnungsgrund verstanden und ohne jegliche weitere Rückfragen akzeptiert.

Wofür ich gar kein Verständnis aufbringen kann – Weder sachlich, noch fachlich, noch rechtlich und erst recht nicht menschlich – sind „Ablehnungsgründe“ der folgen Art. In Anführungszeichen gesetzt, weil das an sich gar nichts mit meiner Bestellung zu tun hat. Es ist einfach nur besserwisseres dummes Gelaber.

Laut dem Pflegegutachten sind Sie schon als untergewichtig bekannt und sollten zwingend mehr Kalorien zu sich nehmen, was Sie mit der Trinknahrung und einem Überleitsystem aus der enteralen Ernährung nicht bewerkstelligen können.

E-Mail der AOK vom 31.08.2022

Ach was? Der ALS Patient, der angefangen mit Lähmungen und ausschließlich krankheitsbedingtem Muskelabbau (nix Mangelernährung liebe Kassen-Sachbearbeiterin, gehen Sie mal in eine Nachschulung) an den unteren Extremitäten rechtsseitig, dann linksseitig, Rumpf, obere Extremitäten rechtsseitig, danach linksseitig und zuletzt Schulter, Hals und jetzt Kiefer- und Backenmuskulatur zu leben hat, also auf gut deutsch: ein Mensch ohne Muskeln, ausgerechnet der soll untergewichtig sein?

Das‘ ja n Ding.

Doch damit nicht genug. Wissenschaft und Pharmaindustrie suchen seit den 80er Jahren nach einer Lösung. Dabei hat die gute Frau von der Kasse schon längst die Lösung aus der Schublade gezogen:

Daher empfehlen wir Ihnen die Anlage eines Gastostomas mittels Stomabutton, welches auch kleiner ist als eine PEG-Sonde.

E-Mail der AOK vom 31.08.2022

Gegen meinen durch Zerfall des motorischen Nervensystems verursachten Muskelschwund hilft also eine PEG. Ja, nee, is klar. Beim ALS Patienten. Nobelpreisverdächtig.

Man halte im Hinterkopf, dieser medizinische Rat kommt von jemandem, der mich nie gesprochen, nie gesehen hat. Der nicht einmal meine Krankenakte kennt geschweige denn einen blassen Schimmer davon hat, was es bedeutet, mit ALS zu leben. Der sich stützt auf ein Gutachten des MDK, das erstellt wurde, ohne mich überhaupt zu befragen. Das von Leuten erstellt wurde, die erwarten, dass sich mein Gesundheitszustand in der Zukunft – erneut Zitat (!) – nicht verschlechtern werde.

Ich reiße mich zusammen und bleibe sachlich. Ich erwarte von der Dame nur eine einzige Erklärung. Wo in aller Welt liegt der Unterschied bei den Kalorien, wenn ich die Nahrung mittels PEG zu mir nehme anstatt exakt dieselbe Nahrung und Menge oral zu mir nehme? Ich verstehe es wirklich nicht. Dabei bin ich doch eigentlich ein recht schlaues Kerlchen. Dachte ich.

Die Krankenkasse beantwortet die Frage wie folgt:

Es tut mir Leid, dass wir Ihnen bei Ihrer ersten Anfrage keine zufriedenstellende Lösung aufzeigen konnten, aus diesem Grund würden wir Ihnen empfehlen bzgl. Ihrer Ernährung und Ihres Untergewichtes dringend mit Ihrem behandelnden Arzt Kontakt aufzunehmen, um mit ihm zusammen eine zufriedenstellende Lösung herbeizuführen.

E-Mail der AOK vom 01.09.2022

Weiß nicht, kann man das als Eingeständnis werten? Ich lese da zwischen den Zeilen so etwas wie „ich habe keine Ahnung, wie eine PEG Ihre Muskeln aufbauen soll, aber so steht es in unserem Supportleitfaden geschrieben“. Mal ehrlich, jedes indische Callcenter (um ein wenig Klischees einzuflechten) hätte professioneller reagiert.

Aber Hauptsache erstmal ablehnen und draufkloppen auf den hilflosen Patienten. Und da wundert sich noch jemand darüber, dass Krankenversicherer so einen schlechten Ruf haben?

Was die Sache mit dem behandelnden Arzt angeht streite ich nicht ab, dass ich das tun sollte sofern noch nicht geschehen. Hab ich halt aber längst getan. Viel mehr als das. Auch in diesem Punkt hätte sich Frau Vorschnell besser erst selbst schlau machen sollen, bevor sie mit dermaßen lächerlichen Stellungnahmen um die Ecke kommt. Denn:

  1. Mit meinem Hausarzt stehe ich wöchentlich in Kontakt. Er ist bestens im Bilde und befürwortet sogar meine Lösung zur Nahrungsaufnahme.
  2. Meine Logopädin prüft jede Woche meinen Schluckvorgang. Von meiner Variante mit der Spritze ist sie total begeistert. In fact, probiert sie so manche Vorgehensweise sogar erst an sich selbst, und dann mit ihren anderen Patienten aus (ich denke da beispielsweise an das Thema Wasser versus Tee, oder auch Sprechen in Rückenlage).
  3. Mit meinen behandelnden Neurologen vom Friedrich-Baur-Institut des Klinikums Großhadern (FBI, weltweit bekannte wie anerkannte Einrichtung, was die Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen wie ALS angeht) habe ich schon vor knapp einem Jahr vorbereitend gesprochen. Sobald die ersten Schluckbeschwerden auftreten soll ich mich melden und bekomme in zwei bis drei Tagen einen Termin.

Ich wäre nicht ich, lägen all diese Informationen nicht selbstverständlich der Krankenkasse vor. Schriftlich, versteht sich.

Alle behandelnden Ärzte und Therapeuten, sogar meine Logopädin, schreiben ständig irgend welche Gutachten für die Kasse. Das letzte war entweder von meiner nebst FBI weiteren Neurologin aus der Praxis am Prinzregentenplatz, die den notwendigerweisen Bedarf von Beatmungsmasken bestätigte… oder von meiner Logopädin, die zwecks Beantragung eines Sprachcomputers feststellte, dass ich nicht mehr gut sprechen kann. Es ist absurd, dass so viel Unwissenheit auf Seiten der Versicherer immer zum Schaden des oft wehrlosen Patienten ausfällt. Zumindest was amyotrophe Lateralsklerose (ALS) angeht herrscht bei meiner Kasse jedenfalls mehr Falschwissen als Fachwissen.

Die pragmatische Lösung heißt ebay

Was soll ich sagen? Ich diskutiere gerne. Sehr gerne. Macht aber nur Spaß auf Augenhöhe. Wenn auch etwas sinnvolles zurück kommt. Solche Gespräche wie diese, die sind müßig und verderben einem echt die ganze Woche. Ich verarbeite das, indem ich darüber schreibe. Der viele positive Zuspruch, den ich dabei von dir und euch zurück bekomme bestärkt mich in dem, was ich tue wie ich es tue.

Dennoch, es bleibt der fade Beigeschmack zu wissen, dass beileibe nicht jeder ALS Patient so gestrickt ist, wie ich es bin. Auch finanziell dürfte ich wohl die Ausnahme sein. Es sorgt schon immer recht für Verwunderung, dass ich trotz der Situation nicht zuzahlungsbefreit bin. Umso mehr freut mich, für jeden ähnlich betroffenen eine pragmatische Lösung zu haben. Sah das Angebot meiner Apotheke noch so aus:

Wir hätten eine Teil der Enfit Spritzen bereits vorrätig. Benötigen Sie diese gegen Komplettbezahlung? Preislich liegen die Spritzen bei insgesamt 218,44€ (4x20ml, 3x60ml).

E-Mail meiner Apotheke vom 10.06.2022

Alter Verwalter. Apothekenpreise in allen Ehren, aber da sind ja noch nicht einmal die 100 ml Spritzen dabei, die ich zum Essen brauche. Hier sind nur die für Espresso und Zahnpflege aufgeführt und die würden mich selbst bei meinem hohen Kaffeekonsum mehr kosten als der Kaffee selbst. Sorry, da sage sogar ich danke, aber nein danke.

Dann halt doch wieder bei ebay eingekauft – ohne Worte: