Heute habe ich zur Abwechslung mal kein Gemecker über meinen Pflegedienst und kein Gejammer. Ganz im Gegenteil. Heute ist mir ein Anliegen, wieder mal etwas aus dem realen Leben eines ALS Patienten zu erzählen. Etwas, das du in keinem Lehrbuch finden wirst. Warum niemand über solche Dinge schreibt? Gute Frage. Vermutlich weil es kein Geld einbringt und es für einen ALS Patienten, der vom Kiefer abwärts gelähmt ist, nicht so ganz trivial ist. Ich bemühe mich, sehr stark in Prosa zu schreiben und meine Texte kompakt und kurzweilig zu gestalten. Dennoch liege ich zeitweise 14, 15 oder auch mal 16 Stunden am Tag vor meinem Blog und bin am Schreiben. Wer außer mir würde darin wohl noch einen Sinn sehen, wenn man dafür nicht bezahlt wird?

Zum Glück genieße ich den Luxus, in meinem Leben genug selbst aufgebaut zu haben, das mir die Finanzierung meines Lebens dauerhaft absichert. Ich kann also weiterhin das tun, was ich schon mein ganzes Leben lang mache. Nämlich das, was ich will, so wie ich es für richtig halte und -der ganz entscheidende Punkt -das, was mir Freude bereitet. Das Schreiben, oh ja, das habe ich immer schon fast so gern getan wie die ganze Zeit zu reden.

Heutiges Thema: Bewegung, Fühlen, Schmerzempfinden.

Es fällt mir immer wieder auf, für wie gebrechlich ich gehalten werde. Wenn ich mir Fotos von mir selbst anschaue überrascht mich das nicht. Sieht schon ziemlich scheiße aus.

Für umso wichtiger halte ich es, zu erklären, was ich wie genau fühle. Auch wenn ich keinen Kontakt zu anderen ALS Patienten habe – ich definiere mich nicht über meine Erkrankung und habe kein Interesse daran, irgendwelchen Selbsthilfegruppen beizutreten -, so glaube ich dennoch, dass ich hier für die meisten ähnlichen Fälle sprechen kann. Oder schreiben kann besser gesagt, äh, geschrieben. Zwinkersmiley.

Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass die bei ALS auftretenden Lähmungserscheinungen ausschließlich auf solche Nerven erstrecken, die für die Motorik zuständig sind. Soll heißen, ich fühle und spüre alles, kann nur nix bewegen. Das ist total abstrus. Man muss sich dafür einen Moment Zeit nehmen und überlegen, was das bedeutet. Dann weiß man schon eine ganze Menge über ALS.

Willkürliche Motorik ist im Grunde alles, was ich am Bewegungsapperat bewusst über mein Hirn steuern können sollte. Also beispielsweise das Heben der Füße beim Laufen, das Beweguen der Finger beim Schreiben oder auch das Zwinkern mit den Augen. Typischerweise fängt es an nur einer Extremität an und breitet sich dann nach und nach auf den übrigen Körper aus. Oder, bei der sogenannten bulbären ALS, da würde es am Kopf beginnen und nach unten wandern.

Bei mir begann es an den Zehen des rechten Fußes. Es folgt der rechte Fuß an sich, das rechte Bein. Schon da zeigt sich das für ALS ganz typische Erscheinungsbild. Ich spüre alles. Jede Faszikulation der Unterschenkel und später auch der Oberschenkel. Krämpfe sind ganz besonders heftig, weil die täglich, oder mehrfach täglich, auftreten und das Schmerzempfinden bei ALS ohne Veränderung bestehen bleibt.

Bei mir kam als nächstes das linke Bein, gefolgt von Unterleib, Bauch, Rumpft, Brust und Hals. Mittlerweile bin ich also ein „Tetra“. Lähmung aller vier Extremitäten, im Fachjargon als Tetraparese bezeichnet.

Und dann, gerade wenn du anfängst, dein Leben als Tetra auf die Kette zu kriegen, kündigt dir dein Pflegedienst, weil du nicht so viel Gewinn bringst wie ein Koma Patient, der mit zehn anderen Patienten in einer deiner WGs liegt. Sich nicht beschweren kann. Auch diese Hürde wird gemeistert. Und dann kamen bei mir der Nacken, der Unterkiefer, Lippen und Zunge. An diesem Punkt stehe ich aktuell.

Bei der ungewollten bzw. unbewussten und nicht steuerbaren Bewegung schaut es ähnlich aus. Da bekommt man das alles nur nicht so ganz mit. Seinen Herzschlag oder auch die Atmung kann man schließlich eh nicht steuern, also würde man wohl auch eher nicht merken, wenn es nicht mehr so gut klappt. In dem Moment, wo du 24/7 an der Beatmung hängst, musst du vermutlich auch eine ungewöhnlich gute Selbstwahrnehmung haben, um eine Veränderung an der Atemmuskulatur fühlen zu können.

Die wirklich spannende Geschichte, und damit auch ein meines Erachtens ganz, ganz wesentliches Element der ALS, ist, dass sensorische Nerven nicht betroffen sind. Ich spüre alles.Ich spüre die Frauen an meiner Seite ebenso wie den Hund, der sich mal wieder den besten Platz ausgesucht hat. Wenn man mich an den Füßen kitzelt, ist das möglicherweise rechtlich als Folter zu betrachten. Denn wie gesagt, ich spüre alles – also auch, wenn du mich kitzelst -, aber kann mich nicht physisch wehren. Nicht wahr, liebe Geli? Zwinkersmiley.

Ein großes Problem kann das sein, dass ich alles spüre. Achte mal bewusst darauf, was du den lieben langen Tag mit deinen Händen anstellst. Wie oft du dir irgendwo ins Gesicht fasst, dich am Kopf kopf kratzt. Oder wo anders am Körper. Noch so ein Klassiker wäre die Mücke, die sichs im Sommer auf deinem Arm gemütlich macht. Ich spüre die Mücke, ihre feinen Beinchen auf der eigenen Haut. Und dann kommt der Teil, der fast schon wieder von akademischem Interesse ist. Was man sonst nicht kennt, weil man sich längst bewegt oder zugeschlagen hätte. Ich spüre, wie mich der Rüssel sticht und ab da dann aber nichts mehr. Ich glaube, die haben irgendwie ein Betäubungsmittel am Rüssel, irgendwas hab ich da mal gelesen.

Kommen wir mal zu den richtig unangenehmen Dingen. Wadenkrämpfe. Noch besser, Krämpfe der Fußmuskulatur. Bis dato wusste ich nicht einmal, dass man einen Krampf am Fuß haben kann. Ich wurde eines besseren belehrt. Und wie man Krämpfe am Fuß haben kann. Besonders viel Freude bereiten die dir, wenn du körperlich nicht imstande bist, dich zu bewegen. Weder den krampfenden Fuß, noch die Hände, um etwas dagegen zu tun.

Und doch gibt es wiederum Momente, in denen Schmerzen das einzige sind, was mich vor schlimmeren bewahrt. Im Gegensatz zu einem Querschnittsgelähmten spüre ich sehr wohl, wenn ich mich wund liege. Wenn ich also einen Dekubitus bekomme, dann lag es nicht daran, dass ich nicht um Lagerung gebeten hätte. Tatsächlich sind die täglichen Schmerzen an den beiden hinten an der Hüfte rausstehenden „Höckern“ (Knochen) schnell unerträglich. Tagsüber würde ich bei jedem Auftreten läuten. Erst wenn ich merke, dass meine Pflegekraft nicht versteht, was wir darunter verstehen, wundgefährdete Hautstellen frei zu lagern, erst dann spare ich mir das ständige Betteln. Oder wenn ich selbst auf eine Whatsapp Massage ein halbe Stunde warten muss, dann finde ich mich lieber gleich mit einem kleinen Dekubitus an.

So. Noch eine weitere Sache habe ich in einem anderen Post schon einmal erklärt. Es ist aber leider aktueller denn je. Also starte ich noch einen Anlauf. Nicht funktionieren tut bei mir die Motorik. Beispielsweise ist es mir nicht möglich, die Bauchmuskulatur oder irgendwelche anderen Muskeln im Lendenbereich anzusteuern. Den Bauch anspannen, das kreig ich also nicht hin. Das hat zur Folge, dass ich nicht so wirklich – nennen wir es beim Wort – scheißen kann, ohne entsprechend nachzuhelfen. Alle zwei Tage nehme ich Movicol, was hauptsächlich ein Weichmacher ist und auch Abführmittel. Zum eigentlichen Geschäft benötige ich dann auch noch was. Entweder, falls schon „dringend muss“, dann reicht oft schon eine Spritze Mikrolax zum Klistieren. Andernfalls muss Dulcolax in Form von Zäpfchen herhalten. Das funktioniert fast immer, kann aber mitunter zwei Stunden Zeit in Anspruch nehmen.

Der Knackpunkt dabei, der auch seitens so manchem Pfleger und Pflegerin nicht begreiflich zu sein scheint: spüren tue ich trotzdem alles. Ich brauche Hilfsmittel, um meinen Darm entleeren zu können, ja. Wenn dann aber etwas kommt, das spüre ich sehr wohl.

Es gibt wirklich keinen Grund – aber wirklich so absolut und überhaupt keinen – mich vor meinem Besuch ungefragt abzudecken und mir, bevor ich auch nur ein Wörtchen sagen kann, die Windel aufzureißen. Das Highlight ist dann die feierlich stolze Erklärung der neuen Erkenntnisse gegenüber meinen Besuchern. Also die Aussage darüber, ob die Windel noch sauber ist oder nicht. In jedem Fall kommentieren werde ich das auch weiterhin mit einem frustrierten „Ich weiß.“. Nachdem das nichts bewirkt, versuche ich es in Zukunft mal mit

„Erzähl mir was, das ich noch nicht weiß. „.

Vielleicht fliegt das ja.

Natürlich weiß sowieso praktisch jeder, dass ich eine Windel trage. Aber muss man das jedem meiner Gäste auf dem Silbertablett servieren? Mist, verdammter. Ich wollte mich doch nicht über meinen Pflegedienst beschweren. Der liefert aber auch echt zu jedem Anlass ein Paradebeispiel dafür, wie es eben nicht sein sollte. Um der Wiederholung wissend, ausgerechnet meine eigenen Pfleger können das Krankheitsbild nicht verstehen.

Tja, so ist das. Das ist ALS.