aka Pflegeanleitung mal anders V2 (Modul P1)

Diese Sammlung von Anleitungen habe ich selbst mit meiner Augensteuerung geschrieben. Ich habe dafür bis zu 18 Stunden am Tag vor dem Monitor verbracht. Ich fände es deshalb schön, wenn du dir die Empfehlungen von mir sehr genau durchlesen und beherzigen würdest.

Pflegeanleitung, Hilfsmittel für Neu- und Quereinsteiger, Fassung vom 22.07.2022, P. Ruppelt 2022

So steht es geschrieben in der der bereits mehr als 100 Seiten starken, ausgiebig mit Fotos illustrierten Erstausgabe meiner Pflegeanleitung (nachzulesen hier). Ursprünglich eine Loseblattsammlung, wurde daraus in wenigen Wochen ein meiner Meinung nach außergewöhnliches Nachschlagewerk für alle, die sich mit dem Thema ALS auseinandersetzen müssen oder wollen. In weiten Teilen belletristisch erzählt, damit das Lesen Freude bereitet. Außerdem glaube ich, dass mein tiefschwarzer Humor, gepaart mit meiner schonungslos ehrlichen, offenen Erzählrealität das ein oder andere Gelesene unvergessen machen. Was im Fall meiner eigenen, mich selbst betreffenden Pflege äußerst hilfreich sein würde. Denn wenn ich eine Sache benennen müsste, die mich am meisten belastet – danach wird man zumindest meiner persönlichen Erfahrung nach als unheilbar Kranker oft gefragt – dann wäre meine Antwort eindeutig: mich zu wiederholen. Für so einen Scheiß habe ich zu wenig Lebenszeit übrig.

Ironie des Schicksals, dass ich nicht an Schicksal glaube. Denn als ich just schreiben will, daran hat sich nichts geändert, fällt mir auf, vor einem Jahr und 5 Tagen war das. Mein alter Pflegedienst hat mich Freitag Abend mit der sozialgesetzlichen Mindesfrist vor die Tür gesetzt. Die Firma war verkauft worden an die Deutsche Intensivpfflege Holding soweit ich weiß. Mit der neuen Geschäftsführung fiel die Entscheidung, sich mit allen Waffen auf das lukrativere Geschäft mit Wachkomapatienten und Co. in Wohngruppen („Pflege-WGs“) zu stürzen. Und wenn das bedeutete, einen ALS Patienten mit Tetraparese in zwei Wochen den Wölfen zum Fraß vor die Füße zu legen, dann war dem eben so. Anders kann man das nicht bezeichnen, schließlich war das zum August. Dem Monat, in dem bekanntlich niemand in der Pflege Urlaub hat. Mit mir reden, Fehlanzeige. Und so war die Anleitung mein Mittel, um mein Wissen weiterzugeben. Wie sonst hätte ich ein neues Team auf Etappen über sehr Monate anleiten sollen? Und darüber hinaus. Es wird ja nicht besser, je länger ich warte. Tut es selten und bei Amyotropher Lateralsklerose, so heisst ALS richtig, weiß man eines sicher. Es wird nicht besser.

Es wird nicht besser. Eine Aussage, die ich hundertfach gelesen habe. Aber was genau wird nicht besser?

Okay, der Katheter im Penis ist jetzt nicht gerade förderlich, was die Lust auf Sex angeht. Verlust der Lust ist aber vielschichtiger und passiert als erstes im Kopf. Physisch, wenn man es so nennen will, funktioniert das besser als je. Wenn du dich wegen Lähmung deines gesamten Körpers nicht mehr mindestens einmal am Tag selbstbefriedigen kannst – egal, ob du an dem Tag schon Sex hattest – und dir deine Freundin dann einen Organismus schenkt, das lässt sich nur schwer in Worte fassen. Wenn du auf Psychedelika stehst solltest du das auch mal ausprobieren. Wird dir gefallen. Ist besser als als Sex mit drei Frauen und einem Mann an einem Tag. Ich muss der einzige Mensch sein auf diesem Planeten, der eine gedankliche Brücke schlagen kann von einem Blasenkatheter zu seiner Vorliebe für serielle Polygamie. Alter Schwede. Katheter. So. Na jedenfalls, den kann man ziehen und dann habe ich ein Zeitfenster von sechs Stunden, Um und bei.

Wir waren dabei, dass es nicht besser wird. Der Gesundheitszustand und die physischen Möglichkeiten, geschenkt. Weder Essen noch trinken zu können, für einen Genussmenschen und Hobbykoch wie mich katastrophal. Keine Musik mehr machen zu können, nie wieder Klavier zu spielen und nie wieder nach fünf Joints und einer halben Flasche Whisky am Lagerfeuer die Klampfe auszupacken… Joggen, Kochen, mit meinem 354 PS S4 an der Riviera in den Sonnenaufgang zu fahren und zu überlegen, ob es eine gute Idee ist, nochmal in Monaco vorbeizuschauen… Jeder hat ein dunkles Geheimnis, meines ist das Autofahren, das ich mit dem Kauf von immer mehr Regenwald wiedergutzumachen versuche. Und ja, okay, ich gebs ja zu, es ist eigentlich alles scheiße an ALS. Und trotzdem funktioniert mein Leben mit einer ganz gravierenden Ausnahme ganz gut. Problemkind Pflege.

Damals wie heute würde jeder meinen, Pfleger*innen müssen das doch wissen. Mich eingeschlossen. Naa ja, müssen sie schon, aber offensichtlich bekommt man wenig beigebracht. Wenn ich nach Fertigstellen meines Pflegehandbuchs noch einmal die Frage höre, ob erst der Kopf oder erst die Arme durchs Shirt gesteckt werden, dann bist du besser nicht in meiner Nähe. Nein, das lernt man genauso wenig, wie richtiges Absaugen. Da wehre ich mich – wie bei allen anderen Themen ebenso – gegen die Behauptung, „ich“ würde das halt so wollen. Wenn das so ist, wenn es um meine Bedürfnisse in einer speziellen Ausprägung für mich passend geht, weil ich der Meinung bin so ist es gut, dann ist das meine Meinung und das wird auch so deutlich erkennbar sein. Der Unterschied zwischen einer Meinung und einer Messung ist mir äußerst wichtig. Ich habe Atemnot ist beispielsweise ein subjektives Empfinden. Ich meine, dass ich Atemnot habe. Ein Puls von 120 ist dagegen eine Messung. Und da brauchen wir nicht drüber diskutieren, ob mein Puls in Ordnung ist oder nicht. Wir haben ihn gemessen. Er ist eben nicht in Ordnung. Oder wenn die Maske falsch aufgesetzt wurde und das Beatmungsgerät sagt, dass es permanent auf Notbetrieb pustet, weil ich nicht triggere, dann ist das eine Messung und nicht meine Meinung. Genauso wenig wie gefühlloses Rumstochern beim Sex hilfreich für die/den/das Penetrierte/n ist, so ist es auch beim Absaugen fehl am Platz. Das ist nicht meine Meinung, sondern messbarer Fakt. Es fühlt sich unangenehm an, das ist meine Meinung. Es löst einen Reflux aus und schädigt die Schleimhäute, das sind anhand der Menge an Blut und Magenflüssigkeit im Sekret messbare Fakten. Das ist so wie mit den Leugnern des Klimawandels und Insektensterbens. Wir müssen nicht mehr darüber diskutieren, ob das real ist. Jede Messung bestätigt das. Es ist real. Und in beiden Fällen verliere ich langsam den Glauben in die Menschheit.

Mal ganz davon abgesehen, dass wir mal auf dem Boden der Tatsachen bleiben wollen. Ich zahle selbst bei höchster Pflegestufe und 90% Schwerbehinderung ziemlich genau, sogar etwas mehr als 2.000,- € monatlich in die gesetzliche Krankenversicherung ein und die zahlt meinen Pflegedienst. Nüchtern betrachtet bin ich der Kunde. Pflegenotstand hin oder her,. Wenn ich sage ich hasse Body Lotion, dann ist mir deine Meinung dazu scheißegal.

Schon lange vor Ausbruch der Erkrankung habe ich zwar immer viel gelabert, meine Worte aber stets mit Bedacht gewählt. Ich finde, Sprache ist ein faszinierendes und mächtiges Instrument. Sie kann sehr präzise sein. Wiederholungen passen bei dem Gesprochenen genau so wenig in mein Weltbild wie in allen anderen Lebensbereichen auch.

Und jetzt versuche, dir vorzustellen, wie es für jemanden wie mich sein muss, sich in meiner Situation wiederholen zu müssen. Als jemand, der für Konversationen auf einen Sprachcomputer angewiesen ist, den er wiederum ausschließlich mit seinen Augen bedienen kann. Glaub mir, jedes einzelne Wort gehört genau da hin wo es steht. Bezogen auf die Pflege war ich zu oft für ein Leben gezwungen, immer neue Pfleger*innen einzuarbeiten.

Vor drei Jahren, mit meinem ersten Pflegedienst.

Vor genau zwei Jahren, als man mir urplötzlich mehrere Dienste aufgrund notorischen Mitarbeitermangels absagte mit den Worten, ich müsse mich eben selbst um die Versorgung kümmern, wenn ich weiterhin auf an meiner Beatmung geschulte Pflegekräfte bestehen würde.

Vor praktisch auf den Tag genau einem Jahr, als ich wieder vor die Tür gesetzt wurde. Dieses Mal aus reiner Profitgier.

Und jetzt schon wieder. In zwölf Monaten hat es mein derzeitiger Pflegedienst nicht geschafft, ein Team aufzubauen und mit wenigen Ausnahmen, die geblieben sind, einen Vollpfosten nach dem anderen zu mir geschickt. Leute, die zehn 24-Stunden-Dienste am Stück bei zwei unterschiedlichen Pflegediensten im Wechsel gemacht haben, bei Ankuft erstmal meine Dusche nutzten und wiederholt sogar im Tagdienst nicht mal vom Beatmungsalarm wach wurden, wenn sie neben mir in meinem Bett eingepennt sind. Pfleger*innen, die mich bei der Grundpflege zwei Stunden nass und nackt im Bett haben liegen lassen, während sie sich um die Wäsche kümmerten. Und ich eine Blasenentzündung bekam. Oder der jüngste Fall, der sich an meiner Whiskeysammlung bediente und sich in jedem Dienst ins Jenseits schoss. Obwohl die Geschäftsführung davon wusste.

Liegt es an mir? Angeblich kann keiner ALS Patienten. Und meine AOK würde zu wenig zahlen. Über 70.000,- Euro weniger im Jahr als andere gesetzliche Krankenkassen. Wäre ja kein Wunder, dass man kein Personal für mich abstellen könne. Auf den versprochenen Nachweis, damit ich das glaube und vielleicht bereit wäre, die Kasse zu wechseln, warte ich bis heute. Für mich sind das alles faule Ausreden. Ich kann nicht mehr. Und ich mag das auch nicht mehr. Das ist sowas von unnötig. Von meiner Anleitung erhoffe ich mir, ein besseres Verständnis nicht nur bei meinen eigenen Pfleger*innen zu schaffen, sondern auch bei dir und in der breiten Masse.

Es sind an sich auch nur Empfehlungen von mir. Meine ALS Erkrankung ist ein Arschloch. Die einfachsten und alltäglichsten Dinge werden urplötzlich zur Lebensaufgabe. Doch nicht nur das. Man wird nie fertig mit dem Tüfteln nach neuen, kreativen Lösungen zu Problemen, von denen Schulmedizin und Pharmabranche nichts wissen wollen, denn es verändert sich ständig. Deshalb wird dieses Heftchen auch ständig aktualisiert. Wann immer du Vorschläge hast, raus damit. Ich probiere alles aus.

Nichtsdestotrotz gibt es ein paar wenige Dinge, die (mir) wirklich wichtig, ja essentiell überlebenswichtig sind. Über die Hintergründe und Details erzähle ich gerne später noch mehr. Für den Einstieg ist mir erst einmal nur wichtig, dass wir alle wissen, wovon wir reden. Denn ja, mit mir kann man super viel Spaß haben, keine Frage. Aber das nächste Kapitel ist buchstäblich mein todbitterer Ernst. Wirklich. Wirklich wirklich.

Stay tuned. There’s plenty more to come. So schnell werdet ihr mich nicht los. Zwinkersmiley.

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