Liebes Tagebuch,

es muss aber halt immer erst was passieren. Wieso muss ich eigentlich als Kunde, der ich schlussendlich bin, völlige Teilnahmlosigkeit an den Tag legen, damit der Ernst der Lage erkannt wird? Hunde, die bellen, beißen nicht. So sagt man. Wer mich kennt, der weiß, dass ich gerne mal meine Meinung argumentativ verteidige. Ganz besonders, wenn es um „Vergangenes“ geht. An Erinnerungen. Erst heute früh hörte ich meinen Lieblingsspruch, als ich um zehn noch immer keinen Kaffee hatte. Ob ich den vergessen hätte.

Als ob mein Hirn vergessen könnte.

Was soll ich sonst antworten? Mein Hirn vergisst halt nicht.

Ich wollte ja nur nicht noch mehr Chaos kreiren. Hat meine Pflegekraft eh schon. Das mit dem Lüften hat sie vergessen, obwohl ich sie zweimal erinnert habe. Aber beide Male ließ sie sich auf dem Weg zur Balkontür von etwas anderem ablenken. Schon irgendwie süß. Man muss dazu wissen, dass es von meinem Bett zum Balkon sind es vielleicht fünf Meter. Und jetzt grad, naja, hänge ich an der Inhalation, die seit 15 Minuten Fertig ist…

Aber das sind alles nur Kleinigkeiten. Nette Anekdoten, die keinen umbringen.

Anders kann es schnell ausgehen, wenn eine Pflegekraft nicht fit ist. Und meinen Alarm nicht mitbekommt. Oder ignoriert, noch besser. Mir gebetsmühlenartig zu erzählen, im Ernstfall würde es ja nie passieren – wo wir aber just über den letzten Ernstfall reden – macht es nicht besser. Auch die lächerliche Behauptung, noch nie wäre so etwas passiert, ist einfach nur kontraproduktiv.

Äh nee, das passiert ständig, aber du merkst es nicht mal, das ist es ja.

Und wieder könnte ich daran verzweifeln, die diplomatisch korrekten Worte zu finden.

Wir hatten Fälle, wo ich seit sieben hätte aufstehen wollen, da ich um 8:00 Uhr einen geschäftlichen Termin gehabt hätte. Und mir auch da, genau wie bei meiner letzten Panikattacke, das Aufstehen verweigert wurde. Erst, weil der Pfleger so stark Migräne hatte, dass er meinen Alarm zwar hörte, aber leider nicht aufstehen konnte. Seine Schmerzen seien zu stark gewesen. Zweitens, weil er dann eine Stunde später zwar bei mir war, mich gegen meinen Willen und ohne zu fragen gedreht hat mit den berühmten Worten, ich solle weiter schlafen. Und weg war er. Weg, im wahrsten Sinne des Wortes. Erst der für 10 Uhr an der Tür klingelnde Tagdienst vermochte es, meinen Pfleger zum Aufstehen zu bewegen. Und selbstverständlich wird bei der Übergabe erzählt, ich hätte bis eben noch geschlafen wie ein Stein. Ich kanns nimmer hören, echt wahr. Bloß durch das ständige Wiederholen wird aus einem märchenhaften Wunschdenken leider keine Wahrheit.

Kein Wunder, dass bei der kürzlichen Übergabe auch wieder „vergessen“ wurde zu sagen, dass der Patient gerade panikt und einen Puls von über 120 hat (ungefähr doppelt so hoch, wie sonst), weil man ihn wieder einmal 1,5 Stunden ignoriert hat. Dazu müsste man ja überhaupt erstmal etwas davon mitbekommen.

Aufgrund der Tragweite dieser Sache habe ich mich schlussendlich an die Geschäftsführung wenden müssen. Gespräche mit der Pflegekraft selbst blieben fruchtlos. Sogar wenn Freunde von mir insbesondere das Thema Alkohol bei der Arbeit, morgens schon Jackie Cola aus der Büchse, ansprechen, folgt nur eine Ausrede nach der anderen. Das Ganze geht dann so weit, dass meinen Eltern erzählt wird, ich würde total auf Fleisch und auf den Geruch fleischhaltiger Nahrung stehen. Deshalb hält mir der Pfleger auch sein Geschnetzeltes in der Plastik-Tupper unter die Nase, nachdem er mir ohne Vorwarnung und ohne zu fragen die Maske runter reisst. Meine Eltern fallen fast aus dem Sessel. Mein Dad kann sich die Frage nicht verkneifen, ob sich mein Pfleger da sicher ist. Ja, absolut sicher, wir hätten das so besprochen und ich hätte ausdrücklich darum gebeten. Ich werde deutlich:

So ein Blödsinn. Ich hasse Fleisch. ich habe Dir schon hundert Mal gesagt, dass ich aus Überzeugung vegan lebe.

Mir gehen so langsam die höflichen Dementi aus hier.

Er bleibt bei seiner Meinung. Wir hätten es so besprochen und ich würde das so wünschen.

Was folgt, sind besagte Panik-Nacht und in der Theorie gleich weitere Dienste, die wohl kaum noch zufriedenstellend hätten laufen können.

Es bricht mir das Herz.

Aufrichtig und ehrlich.

Aber hier und heute muss eine Veränderung her. Eine der raren Situationen, in denen ich meine eigenen Bedürfnisse vor die der anderen stelle.