Augensteuerung

Meine Fresse. Für kein anderes IT-Produkt bin ich so dankbar, dass es so etwas gibt. Aber meine Fresse, das Teil hat mich so manchen Nerv gekostet. Es ist mit Abstand die beste Hardware und beste Software, die ich aus dem Segment der PC-Augensteuerung kenne. Aber ich und meine Ansprüche wieder. So ein Riesen Fickfuck. Ich würde mich schämen, so fehlerbehaftete Produkte zum Kunden rauszustellen.

Des Pflegers Leid

Kein Tag vergeht, an dem nicht mein Pfleger Hand anlegen muss. USB-C Leitung der Infrarotkamera aus- und wieder einstecken ist da noch die einfachste Übung. Blöder sind die vielen Software bugs, äh, features. Freeze nach der Kalibrierung der Kamera beispielsweise, wenn das Programm noch im Vollbildmodus läuft und es der Hersteller leider für unnötig erachtet hat, eine Möglichkeit vorzusehen, mit der auch einE PflegerIn in die Lage versetzt würde, das System neu zu starten. Oder wenn die Kamera nach zehn Stunden vollkommen stressfreiem Dauereinsatz plötzlich beschließt, keine Eyetrackingdaten mehr zu liefern. Noch besser, wenn wie in diesem Foto Kamera und Software einfrieren und den Neustart wie auch die Bildschirmtastatur unterbinden. Da tut sich der in IT-Fragen kompetente ALS Patient halt irgendwie schwer zu erklären, wie sein Sprachcomputer repariert wird, wenn der Sprachcomputer kaputt ist.

Apps voller Fehler

Vom grandiosen Griff ins Klo beim Workflow und „look and feel“ der Software will ich gar nicht reden. Ich arbeite jetzt mit dem Modul zur direkten Ansteuerung der Windows Oberfläche. Die ist halbwegs passabel nutzbar, wenn man so ziemlich jede einzelne Voreinstellung des Lieferanten ändert. Die speziell für Kunden wie mich entwickelten „accessible apps“ wie z. B. WhatsApp für Augensteuerung nutze ich gar nicht mehr. Die haben nicht nur Speicherlecks und fressen die Systemleistung auf, sondern die Hälfte der dortigen Funktionen funktionieren nicht. Der Lieferant kennt die Probleme. Das sei halt so. Ich sag’s dir, entwickle irgendeinen Rotz, besorg dir eine Kassenzulassung, dann noch bissl Lobbyarbeit und du hast ausgesorgt.

Wenn wenigstens die Dinge, die im Grunde funktionieren, immer funktionieren würden, das wäre ein Anfang. Aber nee, ich schreibe eine halbe Stunde an einem Facebook Post, klicke auf Speichern, die App sagt es wurde gespeichert… wurde es aber nicht. Das passiert immer wieder. Bei WhatsApp Nachrichten kommt da richtig Freude auf.

Unterschiedliche Tastaturen je Programm

Aber was solls? Ich würde die Apps ohnehin nicht länger verwenden, seitdem mir klar wurde, dass ich nicht etwa zu blöd zum Tippen bin, weil ich dauernd die falschen Tasten treffe, sondern dass es der Hersteller wohl lustig findet, für unterschiedliche Programme auch unterschiedliche Tastaturen zu nutzen. Mit einem vertauschten Y und Z kann ich leben. Aber wenn das Grid (Raster der Bildschirmtastatur) in der Sprachcomputer-App quadratisch übereinander geordnet ist, im Webbrowser schräg übereinander und im Banking nicht quadratisch, sondern quaderförmig, dann ist das, nun ja, ich möchte es mal vorsichtig suboptimal nennen. In manchen Programmen gibt es neben der Backspace Taste noch eine zusätzliche „Alles unwiderruflich, ohne zurück und ohne Papierkorb löschen“ Taste. Ernsthaft? Wer denkt sich denn bitte so eine Scheiße aus?

Technik aus dem letzten Jahrtausend

Ich möge sachlich bleiben? Gern. Wird aber auch nicht besser dadurch, meine Kritik. Die Communicator Software ist technisch gesehen unverschämt veraltet und inkompatibel zu aktueller Technik. Es werden beispielsweise nur POP3 Mailserver unterstützt. Hatte man in den 90ern, sowas. Unverschlüsselte Kennwortübertragung, gesendete Mails nur auf dem Gerät von dem die Nachricht geschickt wurde, bei Rechnerwechsel leere Mailbox und so. Zurück in die Vergangenheit. Erinnert mich bissl an ein cooles Kapitel aus Edward Snowdens Biografie, als er von seiner Kindheit erzählt. Da fühle ich mich gleich wieder wie mit 14 Jahren. Das waren Zeiten. Alter, die sind vorbei, liebe Medizinprodukte-Hersteller, kommt mal an in diesem Jahrtausend.

Funktioniert (doch) nicht mit iPhone

Dass mir zwei Vertriebsmitarbeiterinnen meines Versorgers auf meine äußerst skeptische Nachfrage explizit bestätigten, die Software könne für SMS und Handyspiegelung zwecks TAN Generatoren und Authenticator App sowohl mit meinem Firmen iPhone X als auch mit meinem privaten iPhone SE, das hätte ich besser auch mal selbst recherchiert, statt den Fachfrauen zu glauben. Jetzt habe ich mir also glatt noch einen dritten Handyvertrag und ein dämliches Google Handy mit Android besorgt.

Autovervollständigung völlig unbrauchbar

Weniger als suboptimal, schlicht und ergreifend hirnrissig finde ich weiter, dass die unterschiedlichen Programmbereiche mit unterschiedlichen Wortschätzen arbeiten. Aber hey, auch das lässt sich in Idiotie toppen. Die Wortvorschläge der Autovervollständigen-Funktion wechseln nämlich mit jedem getippten Zeichen die Position. Es ist praktisch unmöglich, während des Tippens das richtige vorgeschlagene Wort mit den Augen zu fokussieren, weil bis man seinen Blick dort hat, ist der Eintrag schon wieder auf eine andere Kachel gesprungen.

Optisches und akustisches Feedback asynchron zur Eingabe

Das sind allerdings zugegebenermaßen sehr individuelle Luxusprobleme, die nur ich habe. Die Sache ist die. Die Augensteuerung erfasst meinen Blick. Wenn der eine gewisse Zeit auf einem Punkt verharrt, dann wird das optisch signalisiert welche Taste erkannt wurde und der Klick ausgelöst. Der Hersteller liefert die Software mit einer Verweildauer von 1500ms aus. Das heißt, man schaut eineinhalb Sekunden einem sich füllenden Kreis auf der im Fokus befindlichen Taste zu, bevor der Klick tatsächlich ausgelöst wird. Mehr als genug Zeit den Blick zu korrigieren, falls es die falsche Taste ist. Ja, nee, is klar, ich warte bestimmt keine eineinhalb Sekunden auf jede Taste. Der Lieferant stellt es üblicherweise auf 1200ms runter. Auf Nachfrage sagte man mir es wäre ein Patient bekannt, der die Software mit nur 600ms bedient. In einem ALS Forum habe ich die Frage gestellt, 425ms ist das kürzeste mir dort genannte. Und dann komme ich daher mit meinen Sonderwünschen, kennt man von mir ja nicht anders. Ich habe die Verweildauer auf 250ms eingestellt. Das sind vier Zeichen pro Sekunde, in der Theorie zumindest. Schneller packt es die Software leider nicht. Für meine Einstellung muss ich die optische Signalisierung bereits ausschalten, weil die permanent hinterherhinkt. Ich arbeite nur mit meiner Vorstellungskraft, wohin mein Blick gerichtet ist und einem einfachen Klickton zur akustischen Signalisierung einer gedrückten Taste. Bei 250ms ist trotzdem Schluss, weil bei einem schnelleren Setting sogar der Bestätigungsklick asynchron zur Eingabe wird. Dann vergisst die Software nicht nur so manchen Klick zu bestätigen, sondern klickt, wartet bis ich bei der nächsten Taste bin und bestätigt dann die vorherige Taste. Oder auch nicht. Man weiß es nicht. Und das, obwohl ich mir sogar extra dafür anstelle des Kassenmodells – das über fünf Jahre alt gewesen wäre – das neueste, bestausgestattete und leistungsstärkste Surface Pro 8 selbst gekauft habe.

Quintessenz

Was ich daran so bitter finde? Jede zehn Jahre alte Spielekonsole ist reaktiver. Und zuverlässiger. Und kostet einen Bruchteil des Bruchteiles. Mit den Kranken kann man es ja machen…

Und doch ist mir dieses System ans Herz gewachsen wie kein anderes technisches Produkt. Ist es doch das einzige Hilfsmittel, das mir ein soziales Leben erst möglich macht. Schizophren.

Nein, hier endet die Geschichte nicht. Ein paar Nachzügler hab ich noch.