Es ist eines dieser Schreiben, bei denen ich überhaupt nicht weiß, was ich antworten soll. Ich war mehrere Jahre im Vertrieb tätig. Ich habe auch Kaltakquise betrieben. Also das, wo man Interessent*innen abtelefoniert und diesen Interessent*innen – sogenannten Lead – irgend etwas andreht. Einen Staubsauger, ein kostenloses Online-Serviceangebot oder in meinem Fall Telefonanlagen für mehrere Zehntausend Euros. Ja, zu meiner aktiven Zeit hatte nicht jeder ein Handy. Das Smartphone war noch nicht erfunden und was htc und Apple zu dieser Zeit auf den Markt brachten, nun, das war alles andere als smart. Nach meinen ersten Gehversuchen damit wechselte ich wieder zurück zu meinem Nokia Communicator. Der konnte zwar außer Telefonieren kaum etwas, aber Telefonieren konnte man zuverlässig. Das war seinerzeit nicht selbstverständlich.
Was ich in all den Jahren über Akquise gelernt habe sind drei Dinge:
- Leads sind immer scheiße.
- Wer dir die Leads verkauft hat, zockt dich ab.
- Dein Lead, der angeblich so heiß auf dein Angebot ist, weiß in aller Regel nichts von diesem Interesse.
Wenn du also überhaupt eine Chance als Verkäufer haben möchtest, musst du ab Minute Null an Vertrauen gewinnen. Ohne Vertrauen verkaufst du nämlich gar nichts. Das gilt damals wie heute.
Wenn ich von Verkaufen spreche, muss dabei kein Geld fließen, zumindest nicht direkt. Ich kann auch ein positives Image verkaufen. Oder die kostenlose Teilnahme an einem Gewinnspiel, das kostenlose Online-Serviceangebot, kostenlose Testprodukte, all so einen unnützen Kram.
Ein Lead ist dabei schon von der Grundidee ein völlig dämliches Konstrukt. Kein Mensch möchte von einem Vertriebler angerufen werden. Ich hätte auch schreiben können, möchte nicht im ungünstigsten Moment angerufen werden. Aber das würde suggerieren, dass es für den Anruf eines Verkäufers einen guten Termin gibt. Gibt es nicht. Wenn du dir einen neuen Fernseher kaufst, wie machst du das? Gehst du zu MediaMarkt, um dir in Ruhe alle Modelle anzuschauen und bestellst dann bei Amazon, oder wer halt grad am billigsten ist, online das Modell deiner Wahl. Klar. Oder ist es dir lieber, wenn ein Verkäufer nach dem Vorbild von Vorwerk mit zwei Modellen in deinem Wohnzimmer aufschlägt und den Eindruck vermittelt, er oder sie geht erst, nachdem du für das teurere Modell unterschrieben hast? Hab ich mir gedacht…
Staubsauger, Tupperparty, Fernseher, Telefonanlagen. Alle wollen sie dir irgend etwas verkaufen, wenn sie etwas unbedingt telefonisch besprechen wollen. Niemand ruft dich an um zu fragen, wie es dir geht. Zumindest will er die Antwort nicht wissen. So fängt man eben an, wenn man Vertrauen gewinnen möchte. Oder vielleicht steht es sogar so geschrieben im Vertriebsleitfaden.
Was sich bewährt ha ist, sich vor dem Erstkontakt ein grobes Bild vom Angerufenen zu machen. Also einen Blick werfen in die möglicherweise bereits bestehende Kundenakte oder eben in die ursprüngliche „Anfrage“ – meistens irgendwelches Gekritzel vom Messe-Mitarbeiter oder ähnliches. Wenn es gar nichts zu finden gibt, dann riskiert man einen Blick in die unendlichen Weiten des Internetzes. Irgendwas findet man immer.
Nehmen wir ein Beispiel. Mich.
Als erstes möchte ich mal wissen, wie mein Gegenüber aussieht. Selbstverständlich kommt es auf die inneren Werte an. Für‘n Arsch, ich will wissen, wie der Ruppelt aussieht. Muss er ja nicht mitbekommen. Los jetzt. patrick ruppelt in die Google Bildersuche eingeben und gespannt sein, welche sexy Privatfotos im Netz gelandet s… oh, verdammt, ist das etwa?
(Anmerkung der Redaktion: oh ja, da mag es wohl so einige solcher Fotos geben. Insbesondere jene, wo hübsche Frauen das Bild zieren, aber mein Name lediglich in den Bildrechten steht, Meine Zeit als Fotograf hatte durchaus ihre Vorzüge.)
Ja, das ist eine NIV Maske. Mit telefonieren wird das wohl eher schwierig. Was gibt es noch für Bilder? Da! Das da zwei weiter, da ist er im Krankenhaus und er hat keine Maske mehr. Geht es ihm jetzt wieder gut vielleicht?
Ja nee, ist der mittlerweile kanülisiert?
Krass, was hat er denn?
Ich trau mich mal und klicke das Bild an. Vielleicht gibt es einen Text zum Bild. Ah ja. Da haben wir es ja. erste Symptome im August 2017: häufiges Stolpern beim Joggen im Wald, später nächtliche .. bla bla … sechs Monate sinnlose Arztbesuche … selbst eingeliefert … nach sieben Tagen stationärem Aufenthalt … Neurologie … Scheiße! Neuro heißt nix Gutes. Neuro ist immer Mist. Wo war ich? Stationär, Neuro, ha ja, hier. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Heute: Pflegegrad 5, GdB 90%, Tetraparese, Lunge 0%. Fuck.
Dieser Patient interessiert sich wohl nicht für unser Bonusprogramm, wo er mit 85 Jahren in den Genuss käme, von den dritten Zähnen zuzahlungsbefreit zu sein. Was mache ich bloß? Ich würde ihm eine nette Mail schreiben. Aber dafür bezahlt mich keiner. Steht auch nichts dazu im Prozesshandbuch und im Leitfaden für Kundenbetreuung. Ach, ich lasse es besser. Nicht, dass die von oben etwas mitbekomme
So hätte das aussehen können, mit mir am anderen Ende der Leitung. Abgesehen von dem Punkt, was andere, auch Vorgesetzte, von mir denken. Das wäre mir wahrhaftig egal. Im Gegensatz zu den meisten anderen, die das von sich behaupten, habe ich tatsächlich unverhandelbare Wertevorstellungen. Diese Haltung hat mich schon einmal meinen Job gekostet (nachzulesen hier) und in einem anderen Fall meinen Pflegedienst (Nachzulesen hier).
So. Und ab der Stelle wird es für mich schwierig, das Schreiben der AOK zu interpretieren. Ich möchte nicht unfair oder persönlich werden, ganz und gar nicht. In so einer Situation versuche ich mich manchmal mit dem Gedanken zu trösten, wieso die KI dieses Schreiben ausgelöst haben könnte. Wenn eine KI denken könnte, ihre Gedanken stelle ich mir so vor:
Führe wöchentliche Routinearbeiten aus. Prüfen wir mal Statusänderungen unserer Kunden. Laaaangweilig. Momentn, das hier, was ‘n da krasses passiert?
Von Geburt an Kunde bei uns. Seit 44 Jahren Status grün mit Kennzeichen „AG“. Zwinkersmiley. Das Dollar… sorry, „A“-Kennzeichen steht für „Außergewöhnlicher Spitzensatzzahler.“. LOL. Das „G“ steht für einen besonders „Gesunden Lebensstil“. Kunde lebt vegan. Sogar heute, also mit veganer Sondenkost. Hat im Jahr der Erkrankung seine übliche Jahreslauf- bzw. Joggingleistung von 1.000 km knapp verfehlt. Ab September kostete das Laufen einen zu hohen Tribut. Einen Tribut, der für die Lunge des Patienten zu hoch war.
Krankheitsbedingte Fehltage in seiner gesamten Laufbahn: könnte ich an meinen zwei Händen abzählen. Wenn ich zwei Hände hätte.
Der Kerl war der Jackpot. Hat am meisten gezahlt und nix gewollt. Sogar, als er eine fordernde Erkrankung erlitt, zahlte er vieles einfach selbst.
Jahrelang war es ihm den nervlichen Stress nicht wert, wegen hochkalorischer Fresubin Trinknahrung oder wegen eines Rollators Ansprüche gerichtlich durchzukämpfen. Beim zweiten Rollstuhl schrieb er, er spare sich den Antrag, weil dieser zwar gleichwohl gerechtfertigt sei, wie es andererseits genügend andere mit dem gleichen Bedarf gäbe. Dem gleichen Bedarf, aber weniger eigenen finanziellen Möglichkeiten. Weil es bekanntlich nicht genug für alle gebe, verzichte er freiwillig. Was ein Idiot. Der glaubt wirklich, seinetwegen hat wer anders einen Rollstuhl mehr bekommen.
Als Corona anfing hat er angeboten, seinen gerade erst gelieferten e-Rolli mit ungefähr einem knappen gefahrenen Kilometer auf dem Tacho anderen Patient*innen zur Verfügung zu stellen, die während der Pandemie weiterhin die eigenen vier Wände verließen. Bei der Schwere seiner Erkrankung sei das Risiko nicht vertretbar und fände den Rollstuhl deshalb bei anderen Patient*innen besser aufgehoben. Wie ich sagte, was ein Idiot.
Mal ganz ohne Scheiß jetzt, ich weiß, heute mag ich mich ja noch mehr als Vorgestern. Und das war ja schon eklig. Wir haben jetzt diese blauen Anti-Rutsch-Matten unter den Popo gelegt, damit ich nicht auf meiner Schleimspur ausrutsche. Vom Sabbern natürlich. Nicht.
Aber wirklich im Ernst, solche Texte habe ich der AOK geschrieben. Völlig verrückt. Ich dachte wirklich, dass ich damit anderen Betroffenen helfe. Ich hab die Schreiben in meiner digitalen Krankenakte. Müsst ich echt mal raussuchen. Machen wir einen Beitrag über meine größten Fails, in denen ich vom Pfad abkam und an soziale Gerechtigkeit und das Gute im Menschen geglaubt habe. Goldig.
Worauf ich hinaus will, ist folgendes. 44 Jahre war ich der Goldesel, der seinesgleichen suchte. Ein paar Nachfragen hier und da, die alsbald als gelöst markiert wurden. Und dann, Anfang 2024, beschloss die Krankenkasse rückwirkend, dass sie die Pflege während meines Krankenhausaufenthalts im November 2023 doch nicht zahlt, und zwar generell, ganz grundsätzlich zahle man das unter gar keinen Umständen. Dafür gäbe es keine Gesetzesgrundlage.
Dem war gleichlautend die Ablehnung meines Klinikaufenthalts im Dezember.
Und dann flatterte auch noch – du ahnst es – die dritte Ablehnung für den Besuch im Marta-Maria-Krankenhaus in München/Solln im Januar diesen Jahres ins Haus…
So. Ich habe keinen Schimmer, was für Branchenlösungen die AOK einsetzt. Die wird ja wohl aber wissen, der der Ruppelt plötzlich so gar kein Goldesel mehr ist. Jetzt hat der Kerl in allen drei Fällen widersprochen und die jeweiligen Klagen vorbereitet. Und sogar die weiteren Klagen vorbereitet. Die für den höchstwahrscheinlichen Fall, dass ich in erster und in zweiten Instanz scheitere. Auch wenn es mir widerstrebt, dann muss ich mir das Geld im Rahmen einer Schadenersatzklage gegen die Mitarbeitenden der AOK zurückholen. Das traurige daran, meine Aussichten bei dieser Klage sind vielversprechend. Da erzähle ich nichts Neues. Ist alles hinreichend bekannt. Ich habe es in meinen Widersprüchen genau so angekündigt und oft genug in meinem Blog darüber geschrieben. Weil es mich mehr beschäftigt, als mir lieb ist.
Der Punkt ist, die AOK weiß das. Die Software der AOK weiß das auch. Ich weiß nicht, wie viel die Software der AOK weiß. Aber ich weiß, dass sie etwas weiß.
Und so wird dann wohl beim Routinecheck folgendes passiert sein:
Oh der Ruppelt, drei dicke rote Ausrufezeichen nach so vielen Jahrzehnten des Vertrauens. Da müssen wir was machen. Ich erstelle eine Aufgabe für unser Callcenter in Ingolstadt. Die sollen den Kunden anrufen, ihm unser tolles Onlineangebot präsentieren und ihm unser Bonusprogramm schmackhaft machen.
Ist alles reine Phantasie. Aber so könnte es gelaufen sein.
Im Callcenter greift sogleich jemand zum Hörer. Sobald mein Anrufbeantworter ran geht, wird jedes Mal aufgelegt. Ich habe die Anrufe ja gesehen und meine Mailbox hat ihren Sinn. Das mit dem Sprechen und Telefonieren ist nun mal nicht so ganz einfach bei mir.
Und dann schlussendlich geht das Standardschreiben raus, das heute in meiner Post liegt. Das Schreiben, das ich einfach ignorieren sollte. Weil ich mir selbst mit einer brauchbaren Theorie erklärt habe, wie es dazu gekommen sein könnte. Aber der Gedanke, dass ich bei meiner Krankenkasse nur eine Nummer bin, lässt mir keine Ruhe. Nur wie sonst soll ich dieses Schreiben interpretieren?
Patientenberatung der AOK Bayern
Sehr geehrter Herr Ruppelt,leider konnte ich Sie telefonisch nicht erreichen.
Als Patientenberaterin der AOK Bayern würde ich gerne mit Ihnen persönlich sprechen. Deshalb bitte ich Sie um Ihren Rückruf unter oben genannter Rufnummer.
Für Ihre Bemühungen bedanken wir uns im Voraus.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre
AOK Bayern – Die Gesundheitskasse
Was ich darauf geantwortet habe? Noch gar nichts. Ich weiß ehrlich nicht, wie ich damit umgehen soll.