Es ist für mich die Zeit gekommen, dass ich das Bedürfnis verspüre, mal wieder etwas Aufklärungsarbeit in Sachen ALS zu leisten. Aufklärung nicht im Sinne von harten Fakten. Harte Fakten und Zahlen findet man auf genügend anderen Seiten. Und die sind entweder nicht korrekt beziehungsweise mit großer Vorsicht zu genießen oder langweilig. Meistens beides. Wenn es nach dem Wunsch der Statistik geht, liege ich schon unter der Erde. Da sehe ich mich aber lange noch nicht.

ALS ist ein ziemlich abgefahrenes Krankheitsbild. Wie würde ich das beschreiben? Was bedeutet das für den Betroffenen im Alltag? Wie verhält man sich als Außenstehender? Gar nicht so einfach zu beantworten, wenn man drüber nachdenkt. Denn ich glaube, das einzige wirkliche Alleinstellungsmerkmal ist der ständige Wandel. Das Wort „ständig“ wurde bewusst gewählt.

Anfänglich ist alles völlig surreal. Bei mir war es so, dass ich beim Joggen im Wald immer wieder über meinen rechten Fuß gestolpert bin. Wie sich später herausstellen sollte, lag die Ursache in einer beginnenden Fußheberschwäche begründet. Kaum vorstellbar. In einem Moment versuchst du, dein persönliches Jahresziel im September zu erreichen, bevor die Wiesn losgeht. Und dann die Starkbierzeit. Winter-Tollwood. Ja, und der Winter selbst, mit der Adventszeit und Weihnachten. Viel Zeit bliebe da nicht, um die 1.000 km voll zu machen. Es sah alles vielversprechend aus. Und dann so was. Fliegst über die eigenen Fiaß und schaffst keine 2km mehr ohne Asthmaspray. Im Winter.

Zeitsprung. Ich sitze im Rollstuhl. Nun muss ich mir nicht mehr fortlaufend sagen lassen, ich sei kerngesund und solle lieber einen Psychiater aufsuchen anstelle eines weiteren Neurologen. Nach einem halben Jahr des Rennens von Arzt zu Arzt gibt es mittlerweile eine Diagnose: Verdacht auf amyotrophe Lateralsklerose, durch Ausschluss aller anderen „bekannten“ Krankheiten. Man könne mir nicht viel dazu sagen, erklärte man mir im Krankenhaus. Aber ich solle nicht so viel Dr. Google befragen. Nur wen frag ich denn sonst? In der Klinik muss ich dem Prof sogar die Info aus der Nase ziehen, dass es keine Therapie dagegen gibt, die Krankheit unheilbar ist und binnen weniger Jahre unaufhaltsam zum Tode führt. Noch immer surreal.

Tapetenwechsel. Fahre mit meinem S4 zum Kunden. Schon mein fünfter Audi war das zu dem Zeitpunkt. Petrolhead, schuldig. Der Wagen war gekauft, habe ihn dann auf Handgas umrüsten lassen, weil meine Beine gelähmt sind. Ich hätte wohl in die Fahrschule gemusst deswegen. Aber der Aufwand hätte sich nicht gelohnt. Bis es im Zweifel zu einer Anhörung käme, nehmt mir halt den Schein weg. Kann dann eh nimmer fahren irgendwann. Meinen Ottobock Leichtbau-Rollstuhl kann ich schon jetzt nicht mehr heben. Ich bestelle mir einen Vollcarbon-Ultraleicht-Rollstuhl, dessen fast an fünfstellige Summen reichenden Preis ich verdrängt habe. Dieses Hilfsmittel wird nicht von der Krankenkasse übernommen. Ich soll den vorhandenen Rollstuhl nehmen. Ja schönen Dank auch für diese hochqualitative Ablehnung.

Ein paar Mal ins Büro gefahren bin ich damit. Effektiv nur an Tagen, an denen ich wegen Physio ohnehin in die Stadt gemusst hätte. Und bei einer Hand voll Kunden. Dann kam Corona. Keiner konnte dir sagen, welche Auswirkungen COVID-19 auf ALS Patienten haben könnte. Meine Atemmuskulatur läuft schon auf Sparflamme, fühlt sich aber nach 200% Dauerbetrieb an. Außer Spesen nix gewesen also. Sucht jemand einen Rollstuhl, den man mit nur einem einzigen kleinen Finger hochheben kann?

A propos nicht genehmigte Rollstühle. Bei den Rückfragen der AOK zum Antrag eines e-Rollis konnte ich mir nicht anders helfen, als unhöflich schriftlich nachzufragen, ob die mich eigentlich verarschen wollen. Ich möge begründen, wieso ich anstelle des Rollstuhls nicht auf den öffentlichen Nahverkehr zurückgreifen könne.

Euch hamms aber auch echt ins Hirn geschissen. Dieses Gefühl hat man als ALS Patient leider nur allzu häufig. Keiner kennt sich bei der Kasse damit aus, geschult wird nicht – zumindest nicht mit auch nur mangelhaftem Ergebnis – und die Unternehmensleitlinie sagt erstmal alles ablehnen. Ohne Namen nennen zu wollen wurde mir das von mehreren ehemaligen Mitarbeitern der Krankenkassen gesagt, dass ich das auch im Falle einer Klage vertreten würde. Irgendwer muss ja mal den Mund aufmachen. Auch das ist ALS. Als ALSler hast du überall erstmal die Arschkarte gezogen.

Szenenwechsel. Das Telefon meines Geschäftspartners im Büro klingelt. Er hat von mir eine Whatsapp bekommen. Normalerweise würde ich ihm über das Chatsystem der Firma schreiben. Aber da komme ich nicht hin. Sinngemäß schicke ich ihm einen Text der Art „Habs nicht von Badewanne in Rollstuhl geschafft, versuche zur Tür zu robben. Kannst du kommen?“. Und so kam es denn auch. Übrig bleibt nur die Erinnerung. Die blauen Flecken, die Schmerzen, der harte kalte Parkettboden an der vom Duschen noch nassen Haut, … das vergeht. Aber, darauf wollte ich hinaus, das Gefühl ist da. ALS ist eben genau nicht wie eine Querschnittslähmung. Ich wurde schon von Ärzten behandelt, die Querschnitt als Merkmal der Erkrankung nannten. Das ist aber völlig was Betroffen sind nur Nervenzellen, die für die willkürliche Motorik zuständig sind. Die unwillkürliche Muskulatur funktioniert also genau so weiterhin wie auch die gesamte Sensorik.

Das hier, meine ALS, ist – du ahnst es – irgendwie surreal. Ich liege im Bett, muss rund um die Uhr beatmet werden. Ich mache einen großen gedanklichen Sprung. Wir sind im Hier und Jetzt angekommen. Meine Bauch-, Becken- und Brustmuskular ist quasi nicht mehr vorhanden. Das sind Muskeln, die man bewusst steuern kann, die zerfallen praktisch einfach und du kannst absolut nichts dagegen tun. Stuhlgang funktioniert deshalb nur noch unter regelmäßiger Gabe von Movicol (Weichmacher und Abführmittel). Wenn ich dann muss, dann noch entweder klistieren falls ich spüre, dass fast schon was kommt. Andernfalls helfen wir mit Dulcolax (Zäpfchen) nach. Als ob das nicht beschissen – wie treffend – genug wäre, gibt es dann immer wieder so PflegerInnen, die super lieb sein können, aber leider ein völlig falsches Bild von meiner Erkrankung haben. Und einen Mutterkomplex oder ich weiß nicht was. Wie gesagt, ich spüre alles, habe aufgrund der anderen Einschränkungen ziemlich sicher sogar eine bessere Wahrnehmung entwickelt als die Leute um mich herum. So. Mit diesem Wissen vorausgeschickt nenne man mir einen einzigen plausiblen Grund dafür, mir sogar beim Kacken das letzte Fünkchen Selbständigkeit abzusprechen und bevor ich auf die Frage, ob schon was gekommen ist, antworten kann, einfach nachzusehen.

Ja, ich bin ein Pflegefall. Aber gibt das irgend jemandem die Berechtigung, mich zu übergehen, mich de facto nicht einmal dann ausreden zu lassen, wenn man mir eine konkrete Frage gestellt hat? Mir ungeachtet etwaigen Besuchs ungefragt in die Windel zu schauen? Wie fändest du es denn, wenn dich beim Geschäft jemand packt und nachschaut, wie erfolgreich du bereits warst um sodann deinen Besuchern alles zu Konsistenz, Form, Farbe und Menge zu erzählen? Auch das ist leider ALS. Mit ALS bist du nicht nur ein Pflegefall, du wirst immer mehr zu einem solchen gemacht.

Fakt ïst: mit ALS habe ich mich arrangiert. Ich organisiere mein Leben selbständig. Alle Termine, Bestellungen, Abläufe, die ich verwalte, verlaufen problemlos. Ganz im Gegensatz zu dem Chaos, das mein Pflegedienst fabriziert.

Das einzige, womit ich aber nicht klar komme – und auch gar nicht klarkommen möchte – ist die gefühlte persönliche Entmündigung von so vielen Seiten. Versorger, Ärzte, Pflegekräfte, .Ausgerechnet die, die es am besten wissen sollten, dürfen die folgende Liste mal so richtig verinnerlichen.

  1. Ich weiß selbst, ob ich die Windel vollgeschissen habe oder nicht. Das muss man nicht für mich nachsehen. Bei ALS bleiben sämtliche Gefühle, sowohl physisch als auch kognitiv bestehen.
  2. Ich kann selbst entscheiden, ob ich eine weitere Nahrung über die PEG möchte oder nicht. Der Verstand wird durch eine ALS nicht beeinträchtigt. ch brauche niemanden, der mir so einen Bullshit erzählt wie beispielsweise, dass ich mehr Nahrungen trinken muss als vom Hersteller empfohlen, weil ich Muskeln aufbauen müsse. Bei ALS baut man Muskeln ab. Tatsache. Das lässt sich nach heutigem Wissen nicht aufhalten und umkehren gleich dreimal nicht.
  3. Ich bin keine 80. Also red mit mir wie mit einem normalen Menschen und nicht so, als wär ich dein Opa. Ungewöhnliche Alterung gehört nicht zur ALS.
  4. Ich bin nicht taub. Taub sein gehört nicht zum Krankheitsbild einer ALS. Du musst also nicht schreien.
  5. Mit meinen 43 Jahren brauche ich niemanden, der mir sagt, wann ich aufstehen soll. Glaub mir, das kann ich selbst entscheiden. Mal ganz abgesehen von der Auffälligkeit, dass ich am besten erst ab 10 Uhr aufstehen soll, sobald dein Nachtdienst rum ist. Oder erst nach 11 Uhr wenn bekannt ist, dass der Tagdienst später kommt.Es haben nicht viele geschafft, mich morgs zu ignorieren, nachts zu vergessen und aufzuwachen, wenn der Tagdienst an der Tür klingelt. Am besten ist dann die Aussage ich hätte geschlafen wie ein Stein. Das höre ich regelmäßig. Es bedeutet so viel wie PflegerIn war weggetreten und hat keinen Plan, was die letzten Stunden passiert ist.
  6. Wenn ich aus mehreren Jahren Erfahrung heraus behaupte, dass das Kopfband der Maske zu weit unten, nämlich im Hals, steckt, dann glaub mir bitte. Wenn ich sage, das ist einfacher neu aufzusetzen, dann glaub mir bitte. Wenn ich sage, dass mein Hals überstreckt ist, dann fang doch bitte nicht damit an, dies bestreiten zu wollen. Wo gibt’s denn sowas?
  7. Mein Gehirn vergisst nicht. Das war schon immer so und hat sich nicht geändert. Demenz ist keine Folge von ALS. Du wirst damit leben müssen, dass ich jeden deiner Sätze mit der Phrase „Hast du das schon vergessen?“ oder „Erinnerst du dich?“ schnippisch beantworten werde. Auch das ist vermutlich ein Stück weit ALS. Was man so hört – ich muss in der Richtung mal genauer recherchieren, erfüllen fast alle ALS Patienten mindestens zwei der drei Merkmale überdurchschnittlich intelligent, sportlich und gutaussehend. Ich kann mir gut vorstellen, dass andere ALSler genervt davon sind, wenn man ihnen geistige Einschränkungen in den Mund legen will.
  8. Auch lege ich keinen Wert darauf, hinsichtlich eines etwaigen Konsums von Genussmitteln belehrt zu werden. Und ganz besonders nicht von jemandem, den meine unangemeldeten Freunde – die einen Schlüssel zur Wohnung haben – beim Frühschoppen aus der Büchse von der Tankstelle überraschen. Sorry, das ist so absurd, was ich erlebe, ich muss das irgendwie verarbeiten also schreibe ich .
  9. ALS verursacht keine Schmerzen. Auch keine seelischen oder psychischen. Die Folgen von ALS mögen zeitweise schmerzlich sein. Natürlich vermisse ich meine Freundin. Ich will mich auf der Stelle ins Auto setzen und zu ihr fahren. F*ck ALS. Und Pflegefehler haben oft genug Schmerzen zur Folge. Ich sage auch nicht, dass Krämpfe nicht auch mal für ein paar Minuten unangenehm sind. Aber das ist kein Symptom von ALS.
  10. Eine kleine Anekdote zum Schluss: Ich bin Agnostiker und Atheist. Spar dir, mich konvertieren zu wollen, das ist respektlos.
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