Guten Morgen liebes Tagebuch,

die Welt hat mal wieder beschlossen, mich zu ficken. Unfuckingfassbar. Als ob der ganze Mist von Dekubitus über Atemnot bis zu 7.000,- € Forderungen meines eigenen Pflegedienstes gegen mich nicht reichen würden, setzen wir noch einen drauf. Lassen wir nicht nur Patricks Konto bluten, sondern auch sein Zahnfleisch.

Wie angekündigt informiere ich einen meiner Hausärzte, der mich in dieser Sache betreut.

Guten Morgen

,eine für mich trotz Tavor und Zolpidem kaum existente Nacht später… habe ich jetzt seit 24 Stunden Zahnfleischbluten. Die Menge finde sogar ich bedenklich.

Was können wir tun?

Liebe Grüße
Patrick Ruppelt

Es folgen Visiten, als wäre ich auf der Intensivstation im Krankenhaus und nicht daheim. Braucht halt dummerweise alles seine Zeit. Blut abnehmen, Abstrich machen, Ergebnisse vom Labor prüfen. Handlungsempfehlungen aussprechen. Vorbei kommen und Kontrolle. Abhängig vom Laborbefund dann noch Medikamente bestellen. Und so geht es immer weiter. Während ich selbst versuche, obgleich meiner ALS Erkrankung ein halbwegs „normales“ Leben zu führen – mit Freunden, Freundin, Sex, Drogen und Alkohol – versucht das Universum, mich vor all dem zu bewahren und mir stattdessen täglich vorzuhalten, dass ich ein Pflegefall bin.

Nach der Blutabnahme und dem Erstellen eines Abstrichs heißt es erstmal wieder warten. Warten auf besseres Wetter, könnte man sagen. Denn die Wolken über Grünwald werden immer dunkler. Um die Blutung zu stillen, müsste mein Arzt einen Tupfer und Kompressen auf die Wunde tun. Nur ist das nicht so einfach wie es klingt. Es ist nämlich so konstant ganz, ganz wenig am Bluten, dafür aber von gefühlt allen Seiten, dass sich keine einzelne Wunde ausmachen lässt.

Das mit Tupfer und Kompressen funktioniert auch nicht. Dazu müsste ich mehr Kraft in den Lippen haben. Die bleiben nämlich nicht mehr geschlossen, wenn man lauter Zeug zwischen Zahn und Zahnfleisch quetscht. Das ist bei der Nasenmaske ein ernstes Problem. Dann strömt ja die Atemluft nicht mehr in die Lunge, sondern durch die Nase in den Mund und von da direkt wieder raus. Atmen Fehlanzeige.

Dann gäbe es noch einige medikamentösen Therapien. Aber dafür braucht es zunächst das Labor. Das wird „schon“ für heute Nachmittag erwartet. Oder sollte es heißen, es wird „erst“ für nachmittags erwartet?

Selber Tag. Etwas später. Das Festnetz klingelt. Oh ja, so etwas besitze ich noch. Für meine jüngeren Leser, ein Festnetz ist so ein Teil zum reinsprechen. Jemand anderes hört bei sich zu Hause an seinem Festnetztelefon das, was du gesagt hast. Und umgekehrt natürlich. So etwas wie ein Handy. Nur viermal so groß, ohne Internet und ohne Whatsapp und Instagram. Dafür hält der Akku auch eine ganze Woche und wenn die Garantie nach zwei Jahren abgelaufen ist, rate mal, was dann passiert. Nichts. Es funktioniert jahrelang weiter. Wenn wirklich mal der Akku nicht mehr ganz so frisch ist, dann gibt es halt einen neuen für 20,-´€. Mitnehmen? Nein, das ist ja ein Festnetz. Das klingt nicht nur nach festem Netz. Das ist auch tatsächlich so gemeint. Da kommt wirklich noch ein Kabel mit zwei dünnen Kupferdrähten im Keller von Draußen ins Haus rein. Deswegen hat das ja auch immer Netz.

Mein Arzt ist am Telefon. Labor ist noch nicht da. Der befreundete Zahnarzt macht leider keine Hausbesuche. Nach diversen Gesprächen kristallisiert sich eine Sache nur. Bei mir daheim wird keiner auch nur irgendwas machen. Für eine Nachsorge und beständige zahnärztliche Betreuung fragt meine Praxis noch einen weiteren Kollegen, der zumindest im Altenheim eine Straße weiter außer Haus Termine vereinbart. Vielleicht kann der ja bei mir vorbeikommen. Für den Moment hilft uns das nur leider auch nicht weiter. Es blutet unaufhörlich weiter. Eine Lösung muss her. Mein Arzt möchte mich nicht länger unbehandelt hier liegen lassen. Eine weitere Nacht ohne Schlaf halte ich auch nur schwerlich aus . Ich bin jetzt seit etwa 26 Stunden wach. Ich gehe nicht mal mehr auf dem sprichwörtlichen Zahnfleisch.

Um auf dem Zahnfleisch gehen zu können, muss man gehen können. Und Zahnfleisch haben.

Meine Pfleger zeigen unterschiedliche Reaktionen. Aber viel länger kann ich denen meinen Zustand zumuten. Das halten die professionell arbeitenden Pfleger nicht durch und bei den weniger professionell arbeitenden halte ich es nicht länger aus.

Der Knackpunkt: Die Lösung heißt Krankenhaus.

Mein Arzt hat schon mit dem Klinikum rechts der Isar (KRI) telefoniert. Wir benötigen ein Intensivbatt und die Kieferchirurgie. Vermutlich auch eine lokale Betäubung. Also Anästhesie noch anfragen. Na klasse, dann gibt es auch wieder mal ein Patientengespräch. Da kommt Freude auf. Das bedeutet nämlich zwei Tage Krankenhaus. Das lässt aber die gesetzliche Krankenversicherung nicht so ohne weiteres zur Abrechnung zu. Da sollten es schon drei Tage oder mehr sein. Die Klinik wär ja schön blöd, wenn sie mich nicht noch einen Tag länger behalten würde. Zur Beobachtung, wie es immer heißt. Mehr als Beobachten und abrechnen hat man in Krankenhäusern ohnehin nicht getan in den vergangenen Jahren. Eine Bronchoskopie wurde gemacht und eine PEG bekommen habe ich. Die ganzen anderen Termine? Wie gesagt, beobachten. Angeblich zur Verlaufsdokumentation. Gesehen hat die nur leider nicht ein einziger der mich behandelnden Ärzte. Die fangen immer alle bei Null an. Was für ein Armutszeugnis.

Moment, einen Schritt zurück, bitte. Lokalanästhesie? Äh nee, entweder machen wir das Beste draus und ihr ballert mich ins Land der Träume oder ich will mitbekommen, was in meinem Mund gemetzgert wird. Ich wollte keine Betäubung während meiner Rückenmarksbiopsie, da fang iich bei so einem bisschen Zahnfleisch veröden sicher nicht mit an. Gscheit oder gar nicht.

So weit wird es aber nicht kommen. Ich gehe nicht ins Krankenhaus. Da nich für.

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